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DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIK
Berguen
Bern - Altstadt mit Muenster von der Schwelle aus
Lohn GR
Graubünden
Deutsch und Romanisch in Graubünden (Teil 2)


Deutsch und Romanisch in Graubünden (Teil 1)
von R. Wyß

Ein dreisprachiger Kanton

Graubünden ist bekanntlich der einzige amtlich dreisprachige Kanton in der Schweiz. Nach Ausweis der Eidgenössischen Volkszählungen, die bis 2000 in der Regel alle zehn Jahre durchgeführt wurden, hat sich seit 1880 das Italienische im wesentlichen gehalten (1880: 13,7 %, 2000: 12,0%), während der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung zu Lasten des Romanischen gewachsen ist. Von 1880 bis 2000 verdoppelte die Bevölkerung Graubündens (von 93’864 auf 191’612), während die Anzahl Sprecher des Romanischen um einen Viertel zurückging (von 37’794 auf 27’038), ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung schwand von 40% auf 15%.  Zwar ist die  romanische Diaspora in der Schweiz gewachsen; sie ist jedoch in allen Kantonen im niedrigen Promillebereich und wird in der Regel innerhalb einer Generation assimiliert. Deutsch ist nach Ausweis der Volkszählung heute die vorherrschende Sprache Graubündens, es wurde im Jahre 2000 von über zwei Dritteln der Bevölkerung als Hauptsprache gesprochen (127’755, also 68,3%).
Was ist denn Rätoromanisch? Tatsachen und Legenden, Begriffsverwirrung
Wieviel Rätisches ist im Rätoromanischen? 
Wenn man nach der Herkunft und Entstehung des Rätoromanischen fragt, ist auf viele Quellen kein Verlass, auch nicht auf offizielle. Swissinfo, der „internationale Service“ der SRG, leitet die Webseite zum Thema „Rätoromanisch“ mit folgender Definition ein: 
„Rätoromanisch ist eine Schweizer Minderheitensprache, die aus einer Vermischung von Volkslatein mit keltischen und rätischen Sprachen im Kanton Graubünden entstand.“ 1)
https://www.swissinfo.ch/ger/dossiers/raetoromanisch
Die Legende von der Vermischung des Rätischen mit dem Latein wurde selbst von unseren Landesmedien verbreitet, als 2004 mit der Eroberung Rätiens durch die Römer der Beginn des Rätoromanischen gefeiert wurde.  An dieser Definition ist mehr falsch als richtig. Nach der Unterwerfung Rätiens durch die Römer im Jahre 15 n. Chr. wurde die neue Provinz innerhalb weniger Jahrhunderte romanisiert. Das Latein setzte sich durch, das Rätische starb aus. Die Morphologie des Rätoromanischen  ist aus dem Latein entstanden; es gibt keine Erscheinungen in der romanischen Grammatik, die auf eine vorindogermanische Herkunft hindeuten. In der Volkssprache dieses Gebietes hielten sich nur wenige Wörter aus vorrömischer Zeit. Rätische und keltische Spuren sind fast nur in Orts- und Flurnamen zu finden. Als Beispiel für rätisches Substrat wird gerne das Wort crap ‚Stein, Fels’ genannt, welches aus der vorrömischen Zeit überlebt hat.

Jahrhundertealter Kontakt mit dem Deutschen
Wesentlicher für den Wortschatz des Romanischen sind Entlehnungen aus dem Deutschen und Italienischen geworden: pur, paur (Ladin) ‚Bauer, Landwirt’, uaul, vaud, god‚Wald’; contadin ‚Bauer’. Dank der Nähe des Bündner Oberlandes zu Chur und zur übrigen Deutschschweiz ist der deutsche Einfluss im Oberländer Dialekt Sursilvan besonders deutlich, während im Ladin des Engadins die Nähe zu Italien sich auch in der Sprache niedergeschlagen hat.
Als Churrätien wurde der Teil bezeichnet, der von Chur aus regiert wurde und nach der Völkerwanderung seinen romanischen Charakter bewahrte. 806 belehnte Karl der Große Graf Hunfred mit Churrätien; fortan herrschten Adel und Beamte deutscher Zunge in Churrätien. Das Bistum Chur, welches sich im wesentlichen mit Churrätien deckte, wurde 843 aus dem Erzbistum Mailand gelöst und dem Erzbistum Mainz unterstellt. Insgesamt war Churrätien seit dem 9. Jahrhundert politisch, kirchlich und wirtschaftlich an den deutschsprachigen Norden gebunden. Vom frühen Mittelalter an wurde die rätoromanischen Sprache von Arbon zum Hirschensprung im St. Galler Rheintal und weiter nach Süden zurückgedrängt. Im Hochmittelalter wurde die Gegend am Walensee germanisiert.

Das Bistum Chur im Mittelalter

Das Bistum Chur im Mittelalter

Eigentlich entstand Graubünden als Staatenbund erst im 15. Jahrhundert durch den Zusammenschluss der drei Bünde Grauer Bund, Gotteshausbund und Zehngerichtenbund; die drei Bünde wurden durch den Anschluss an die Eidgenossenschaft als Zugewandter Ort im Jahre 1498 gefestigt. Die gemeinsame Sprache Graubündens und der alten Eidgenossenschaft war Deutsch. Das schwächte jedoch innerhalb Graubündens die Stellung des Romanischen nur geringfügig, so wie auch im Freiburgerland die deutsche Amtssprache das Französische nicht wesentlich in seiner Substanz beeinträchtigte. Eine bedeutendere Schwächung brachte der Churer Stadtbrand von 1464, welcher die Germanisierung der Stadt beschleunigte und das romanische Sprachgebiet schließlich seines kulturellen Zentrums beraubte zu der Zeit, als das Latein in Europa als universelle Schriftsprache in zunehmend von neuen Standardsprachen abgelöst wurden, die auf den Volkssprachen der jeweiligen Sprachgemeinschaften fußten.
Eine weitere Kontaktzone mit dem Deutschen entstand im 13. Jahrhundert durch die Einwanderung von Walsern. Diese  besiedelten vorwiegend hochgelegene Talschaften, die vorher unbewohnt gewesen waren. Im Bündner Oberland wurden später einige dieser Walsersiedlungen romanisiert, so etwa Tschamutt in Tavetsch und der Weiler Fidaz bei Flims; in Fidaz wurde bis ins 18. Jahrhundert Deutsch gesprochen und gepredigt.2 Auch im Schams und im Oberhalbstein (Alp Flix) sind in den Flurnamen Spuren ehemaliger Walser Siedlungen gefunden worden.3 Im Prättigau und im Schanfigg siedelten die Walser zunächsten im oberen Talabschnitt, weiteten später jedoch ihr Siedlungsgebiet und auch das deutsche Sprachgebiet talabwärts aus.



Hausinschrift in Andeer

Hausinschrift in Andeer

Tgi ca va plan
va san a va tgientsch,
a riva ple lientsch.

Wer langsam geht,
geht gesund und leicht
und kommt weiter.

Dezentrale Schriftsprachen
Die Folge davon, dass Chur als mögliches Kulturzentrum verloren ging, war, dass im 16. Jahrhundert im Oberengadin, im Unterengadin und im Bündner Oberland drei regionale Schriftsprachen entstanden. Diese werden heute Idiome genannt, weil sie immer als Varianten derselben rätoromanischen Sprache verstanden wurden. Das Sursilvan leistete sich bis ins 20. Jahrhundert sogar den Luxus, mit kleinen Differenzen den Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus zu markieren.  Später kamen noch zwei weitere Schriftsprachen dazu, so dass das rätoromanische Sprachgebiet und seine Sprecher heute auf fünf Idiome verteilt sind. Die fehlende gemeinsame Schriftsprache hat die Stellung des Romanischen in den letzten Jahrhunderten zweifellos geschwächt; sie ist immer wieder thematisiert worden, und in den letzten gut 150 Jahren hat es zwei Versuche gegeben, nachträglich, eine zwischen den Idiomen vermittelnde Schriftsprache als Dach über der ganzen Sprachgemeinschaft zu bauen. 

Das Bergell als Sonderfall
Der Dialekt des Bergells, das Bergagliot, nimmt eine Zwischenstellung zwischen dem Lombardischen und dem Ladin ein.Das Bergell gehörte stets zu Churrätien; seine Nähe zum Ladin kann ebenso auf alte Ähnlichkeiten wie auf Annäherungen an das Romanisch des Engadins zurückgehen.4 Das Tal zählt jedoch zum italienischen Sprachgebiet, weil die Pastoren, welche die Reformation ins Bergell brachten, aus Italien stammten. Die Italianisierung Bivios (Beiva/Stalla) im Oberhalbstein geht hingegen auf eine Kolonisation zurück; in den letzten Jahrzehnten ist jedoch das Dorf germanisiert worden.

Die Romanisierung der römischen Provinzen und die Entstehung der romanischen Einzelsprachen
Die Gebiete, welche die Römer eroberten, wurden unverzüglich dem Imperium als Provinzen einverleibt, die Bevölkerung erhielt bald einmal das römische Bürgerrecht und wurde innerhalb weniger Generationen romanisiert. Das Latein verbreitete sich im Imperium als Volkssprache zwischen der Iberischen Halbinsel und dem Balkan.
Latein ist die Sprache des antiken Römischen Reiches, in welcher auch dessen Gesetze und Literatur geschrieben sind; dieses Latein ist über mehrere Jahrhunderte erstaunlich einheitlich. Latein ist auch noch die Kirchen-, Gelehrten- und Kanzleisprache des Mittelalters, welche weitgehend den Wortschatz und die grammatischen Formen des antiken Lateins bewahrt hat, wenn auch der Satzbau vereinfacht ist und mehr jenem der modernen Sprachen gleicht.
Wie wurden dann aus dem Latein eigenständige romanische Sprachen, auch im heutigen Graubünden? Ihren eigenen Charakter gewann die Volkssprache in den einzelnen Provinzen erst durch beschleunigten Sprachwandel, als das Römische Imperium zerfiel. Möglicherweise sind Aussprache und Intonation durch die Substratsprachen, also die Sprachen, die in den Provinzen vor der Romanisierung gesprochen worden waren, mitgeprägt worden. Das gilt auch für das Rätische, welches nicht von einem Tag auf den andern verschwand; doch ein solcher Nachklang des Rätischen lässt sich natürlich nicht nachweisen.

Lateinisch und die romanischen Sprachen
Nach dem Ende des Römischen Reiches fehlte dem Latein das Zentrum; deshalb  entwickelte es sich in den Provinzen unterschiedlich, und die modernen romanischen Sprachen entstanden. Zwar wechselten nirgends die Leute von einem Tage auf den andern vom Latein zu einer Nachfolgesprache - der Übergang war fließend -, doch in der Summe sind die Sprachvarianten, die sich herausgebildet haben, seit langem kein Latein mehr, sondern Dialekte, die gegenseitig nicht mehr ohne weiteres verständlich sind und aus denen neue Hochsprachen mit eigenen Regeln entstanden sind.
Diese Sprachen werden seit dem 19. Jahrhundert sinnigerweise romanisch genannt, weil sie aus dem Latein des Römischen Reiches entstanden sind. Die Engadiner sprechen zwar eine Sprache, die aus dem Lateinischen hervorgegangen ist und Ladin heißt; es ist aber kein Latein mehr, sondern eine romanische Sprache. Es gibt nur eine lateinische Sprache, und diese wurde im Altertum im Römischen Reiche allgemein  gesprochen und geschrieben; das Latein des Mittelalters war keine Volkssprache mehr. Die modernen romanischen Sprachen sind vom Latein weit entfernt, wie jeder weiß, der einmal Latein gelernt hat und sich gar der Aufgabe unterzogen hat, Texte ins Lateinische zu übersetzen. Bei dieser Tätigkeit helfen Kenntnisse der modernen romanischen Sprachen nur sehr beschränkt.
Von einer lateinischen Schweiz und lateinischen Sprachen zu sprechen ist aus den genannten Gründen wenig sinnvoll, doch liest man das immer wieder. Ich denke, dieser Ausdruck geht auf die politische Vereinigung Helvetia latina zurück, die 1980 gegründet wurde. In dieser Gruppierung wollen französisch-, italienisch- und rätoromanischsprachige Politiker ein Gegengewicht zur deutschen Schweiz schaffen und deren Dominanz in der Bundesverwaltung und in den Eidgenössischen Betrieben gemeinsam mehr Gewicht entgegensetzen. Doch die Schweiz lässt sich nicht einfach in sprachlich definierte Ethnien unterteilen; schon die Welschen in der Romandie bilden keine Einheit, und noch viel weniger gibt es eine gemeinsame politisch-kulturelle Mentalität in der romanischen Schweiz. 

Bündnerromanisch, Rätoromanisch oder einfach Romanisch
In der Schweiz haben wir also drei romanische Landessprachen: Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. In Graubünden allerdings heißt die rätoromanische Sprache meistens einfach Romanisch beziehungsweise Romontsch oder Rumantsch, und ich halte es in diesem Aufsatz ebenso; in diesem altüberlieferten und volkstümlichen Namen der Sprache schwingt deren emotionale Bedeutung mit für die Identität, die lokale und regionale Gemeinschaft sowie die Tradition ihrer Sprecher. Das alte Wort war früher im Deutschen außerhalb Rätiens Churwelsch, doch das ist außer Gebrauch geraten und schon deshalb nicht zu empfehlen, weil seine bairische Entsprechung Kauderwelsch zu einem abfälligen Ausdruck für unverständliche Sprache geworden ist. Die Bezeichnung ‚Rätoromanisch’ wird gewöhnlich nur in wissenschaftlichen und amtlichen Texten sowie in Texten von außerhalb Graubündens verwendet; manche Linguisten ziehen Bündnerromanisch vor, weil Rätoromanisch auch als Oberbegriff für das Romanische in Graubünden, das Ladinische im Südtirol sowie das Friaulische in der Provinz Udine verwendet wird.
Ich bezeichne die Sprecher des Romanischen in Graubünden im folgenden der Einfachheit halber als Romanen, obwohl sich viele Romanen eher als Engadiner, Oberhalbsteiner oder Oberländer fühlen. Außerdem sind Italienischbündner im weiteren Sinne des Wortes ja auch Romanen. Ich meine mit Romanen hier ausschließlich Leute, die im Alltag Romanisch sprechen und sich mit der Sprache sowie dem damit verbundenen Kultur (der Literatur und dem Brauchtum) identifizieren. Die gemeinsame Bezeichnung für die nichtdeutschsprachigen Bewohner Graubündens und für ihr Siedlungsgebiet war in Graubünden selbst früher einfach welsch; ein Beispiel dafür ist das Welschtobel, ein kleines Tal zuhinterst im Schanfigg, welches aber nicht zu Arosa gehört, sondern zu Alvaneu, einem Dorf im Albulatal jenseits der Wasserscheide. Ob das Wort welsch in dieser Bedeutung in Graubünden heute noch geläufig ist, entzieht sich der Kenntnis des Verfassers. 

Das alte Bad bei Andeer: Andeer Bogn

Das alte Bad bei Andeer: Andeer Bogn

Rätoromanische Dialektgruppen und Idiome;
die Kunstsprache Rumantsch Grischun
Vereinfacht können drei Dialektgruppen unterschieden werden: Sursilvan (Surselvisch) im Bündner Oberland, Ladin im Engadin und im Münstertal sowie die Dialekte Mittelbündens, die sowohl geographisch als auch linguistisch eine Mittelstellung zwischen Surselvisch und Ladin einnehmen.
In diesen Dialektgruppen gibt es fünf Schriftsprachen oder Idiome, welche im Falle des Surselvischen und des Ladins eine vier- bis fünfhundertjährige Tradition haben, im Falle des Mittelbündnerischen jedoch jünger und auch schwächer sind.
Surselvisch hat ein einheitliches Idiom; die kleinen Unterschiede zwischen der katholischen und protestantischen Version sind 1900 abgeschafft worden. Im obersten Teil des Oberlandes, in der Landschaft Tavetsch (romanisch Tujetsch) weicht der gesprochene Lokaldialekt ziemlich markant vom surselvischen Standard ab.
Ladin hat zwei Idiome, Putèr im Oberengadin und früher in Bergün sowie Vallader im Unterengadin sowie im Münstertal. Putèr und Vallader sind sehr ähnlich; die Verständigung zwischen Sprechern der beiden Idiome ist problemlos, was nicht für alle Idiome Graubündens gilt. Das Jaur im Münstertal hat seinen Namen vom Personalpronomen jau ‚ich’. Es gehört zwar zum Ladin, weicht jedoch ziemlich vom Vallader des Unterengadins ab. Deshalb beschloss das Münstertal im Jahre 2007, zu Rumantsch Grischun als Schulsprache überzugehen; fünf Jahre später jedoch, am 11. März 2012, machte das Stimmvolk den Entscheid rückgängig und beschloss, zum Valla­der zurückzukehren. Meistens ziehen es Sprecher von Ladin und Sursilvan vor, miteinander Deutsch zu sprechen, doch hat die Fähigkeit und Bereitschaft der Romanen, sich über die Idiomgrenzen hinweg zu verständigen, dank Radio und Fernsehen und ein Stück weit vielleicht auch durch die neue Kunstsprache Rumantsch Grischun zugenommen.
Das Mittelbündnerische hat auch zwei Idiome, nämlich Surmiran und Sutsilvan. Surmiran wird im Oberhalbstein und einigen benachbarten Dörfern gesprochen, Sutsilvan im Tal des Hinterrheins, also im Domleschg und am Heinzenberg sowie im Schams. Beide Idiome sind jedoch bedrängt und gefährdet durch fortschreitende Germanisierung. Sutsilvan hält sich nur noch im Schams, wo die Talschaft in Donat eine Primarschule mit romanischer Schulsprache führt. Die meisten Kinder werden aber in Andeer auf Deutsch eingeschult. Surmiran steht etwas besser da, doch ist das Idiom in den Schulen durch das neue Rumantsch Grischun (RG) abgelöst worden, welches seit 2001 dem Kanton als Amtssprache dient. Die Oberhalbsteiner sahen in RG ein Mittel zur Stärkung des Rätoromanischen gerade auch in ihrem Tal. Das eigene Idiom, das Surmiran, wird wohl innerhalb einer Generation als Schriftsprache aussterben, und mit einem Einfluss von RG auf die gesprochenen Mundarten im Oberhalbstein ist zu rechnen.
Wie bereits erwähnt, hatte im 16. Jahrhundert, als z.B. im Niederländischen und im Deutschen die überregionalen Standardsprachen geschaffen wurden, das Bündnerromanische sein natürliches Zentrum Chur ans Deutsche verloren und war in seiner Bedeutung geschwächt. Deshalb entstanden im Bündner Oberland und im Engadin drei regionale Schriftsprachen, die heutzutage Idiome  genannt werden: Sursilvan, Putèr und Vallader.
Das Ziel einer gemeinsamen Schriftsprache wurde jedoch nie ganz aufgegeben. Im 19. Jahrhundert machte es sich Gion Antoni Bühler aus Ems zur Aufgabe, eine romanische Schriftsprache zu schaffen, welche die regionale Trennung überwand. Das Kriterium für die Wahl seiner Varianten war das sprachgeschichtliche Alter; sein Romontsch fusionau war also ein sehr konservatives Romanisch. Die Kampagne für seine Standardsprache begann 1867 Bühlers Einzelleistung war beachtlich; er wurde vom Kanton unterstützt und scharte auch Mitstreiter um sich, doch wurde sein Standardromanisch von vielen als künstlich abgelehnt. Erschwerend kam hinzu, dass Bühler sein Romontsch fusionau drei Jahrzehnte lang weiterentwickelte, was die Übernahme erschwerte. Außerdem waren die Animositäten zwischen Katholiken und Protestanten noch zu bedeutend, als dass eine Einigung möglich gewesen wäre.
Anders als Bühlers Versuch schuf Heinrich Schmid sein Rumantsch Grischun (RG) 1982 aus einem Guss innerhalb von vier Monaten. RG ist wie Bühlers Romontsch fusionau ein Kompromiss. Wo Ladin und Sursilvan zusammengehen, wird deren Form übernommen, sonst jene Variante, welche eines der beiden Idiome mit dem Surmiran teilt. Dadurch sind die für das Engadin typischen ö und ü, etwa in füm ‚Rauch’ und vöglia ‚Wille’. 1993 wurde as neue Wörterbuch Pledari grond in Buchform herausgegeben, seither wird es als Website weiterentwickelt, auf der auch die fünf regionalen Idiome einbezogen sind.
Von vielen wurde die Hoffnung gehegt, Rumantsch Grischun würde das Romanische stützen und die Romanen dazu ermuntern, über ihre Regionen hinaus auf Romanisch miteinander zu kommunizieren. Außerdem hatten der Bund und der Kanton Graubünden ein Interesse daran, Gesetze, Verordnungen und andere Texte nur noch in einer romanischen Version zu veröffentlichen statt auf Sursilvan und Vallader. Der Bund ging bereits 1986 zur Verwendung von RG über, der Kanton durch Regierungsratsbeschluss 1996 und per Gesetz 2001. RG sollte ja eine Dachsprache werden als Amtssprache und als Sprache für überregionale Publikationen.
Bald jedoch bekamen die Förderer von RG Appetit auf mehr. An den Volksschulen wurden Lehrbücher in fünf verschiedenen Idiomen verwendet, was natürlich teuer war. Deshalb wurde nach 2000 die Einführung von RG auch an den Volksschulen forciert. Dem Rufe folgte, wie schon erwähnt, das Oberhalbstein. Dort hat sich RG als Schulsprache und wohl auf die Dauer auch als Amtssprache etabliert. Es ist auch Schulsprache in Trins und Ems, wo nur noch eine Minderheit der Kinder Romanisch spricht. Außer im Münstertal ist RG als Schulsprache auch in der Gruob, der Region um Ilanz und Sagens im unteren Bündner Oberland. An den Bündner Gymnasien wird RG gelehrt.
Es scheint, dass bei der Förderung von Rumantsch Grischun der Bogen überspannt wurde. Die forsche Art, in der Bernard Cathomas von der Lia Rumantscha den Geltungsbereich der  neuen Standardsprache ausweitenwollte, hat der Lia Rumantscha geschadet; viele Romanen fühlen sich von ihr nicht mehr vertreten. Die LR scheint zunehmend als zu kopflastig empfunden zu werden; die „Berufsromanen“ haben sich nach der Meinung vieler von der Basis entfremdet.
Stark verkürzt ausgedrückt könnte man sagen: Der Mehrwert, der mit RG durch die Überbrückung der regionalen Sprachdifferenzen gewonnen wird, macht den Verlust an Identifikation mit den „Idiomen“, also den regionalen Schriftsprachen, nicht wett. Näheres dazu in Teil 2.
https://www.suedostschweiz.ch/politik/toutsch-berufsromanen-stehen-jetzt-der-pflicht
R. Wyß-Wolf (rww)

1) Zur vierten Landessprache der Schweiz gibt es eine umfangreiche Literatur. 
Eine Gesamtdarstellung bietet folgendes Werk:
Liver, Ricarda. Rätoromanisch: Eine Einführung in das Bündnerromanische. Tübingen (Narr) 1999.
Eine bedeutende Darstellung der Diskussion um das Romanische und insbesonder die Mythen und Argumente, die in dieser in den letzten 150 Jahren eine Rolle gespielt haben, gibt das Buch von Renata Coray. Es ist eine Dissertation, die mit ihrer Qualität und ihrem Umfang eher eine Habilitationsschrift ist:
Coray, Renata. Von der Mumma Romontscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun: Rätoromanische Sprachmythen. Chur (Bündner Monatsblatt) 2008.
2) Znsli, Paul. Walser Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Piemont. Frauenfeld und Stuttgart (Huber) 19703,, 239.
3) Zinsli 31, 244.
4) Der Bergeller Dialekt wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt: Einmal wird er zum Rätoromanischen geschlagen, ein andermal zum Lombardischen. Zu beachten ist, dass die lombardischen Dialekte dem Rätoromanischen ohnehin nahestehen.
Wartburg, Walter v.  Zur Stellung der Bergeller Mundart zwischen dem Rätischen und dem Lombardischen. https://www.srf.ch/sendungen/srf-bi-de-luet-wunderland/bergell-gr  
Stampa, G.A. (1934), Der Dialekt des Bergell. I. Teil. Phonetik, Aarau: Sauerländer.

Deutsch und Romanisch in Graubünden (Teil 2)

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