The WYSS Website / Die WYSS Webseiten / Na Leathanaigh WYSS
Home / Heim / Abhaile
BÜCHER, ABHANDLUNGEN, AUFSÄTZE
 

Stiernhielms Hercules: Ein in sich geschlossenes Kunstwerk?

R. Wyss-Wolf
© R. WYSS 2007/2014

 

INHALTSVERZEICHNIS

1.
2.

2.1.

2.2

2.3

2.4.

Die Antwort der Tugend

3.

Hercules und die Epigramme

4.
Zusammenfassung und Ausblick
5.
Anmerkungen
6.
Literaturverzeichnis

 

1. Einleitung

Die Dichtung des 17. Jahrhunderts, die nicht volkstümlicher Art ist, zeichnet sich oft durch eine starke Verankerung in der philosophischen und theologischen Tradition aus, welche ebenso wie viele Symbole und Allegorien selbst wissenschaftlich geschulten heutigen Lesern oft nicht unmittelbar zugänglich ist. Auch Stiernhielm war ein gelehrter Dichter, und so hat sich ein bedeutender Teil der Fachliteratur mit seiner Weltanschauung befasst, die auch im Hercules zum Ausdruck kommt. Die literarische Leistung ist vorwiegend in einzelnen Erscheinungen untersucht worden, doch ist m.W. noch wenig unternommen worden, um das Werk auch als Gesamtes in seiner künstlerischen Qualität zu würdigen. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung hat Thomas Mohnike in seinem jüngst erschienenen Aufsatz gemacht, wo er davon ausgeht, dass wir auch bei Stiernhielm einen vierfachen Schriftsinn erwarten dürfen.1

Hier soll nun mit einer etwas anderen Fragestellung ebenfalls versucht werden, das Gedicht literarisch zu würdigen. Hercules erhält am Scheidewege von zwei Seiten ganz unterschiedliche Ratschläge. Wie sind die beiden Reden aufeinander bezogen sowohl in inhaltlich-thematischer als auch in sprachlich-stilistischer Sicht? Überschneidungen mit Mohnikes Aufsatz sind dabei nicht zu vermeiden, da die Beziehung zwischen den beiden Teilen auch durch die Zweideutigkeit der Schlüsselworte, die in der Argumentation verwendet werden, geschaffen oder gefestigt wird. Gestalterisch ist der jähe Abbruch des Textes ohne Abrundung mindestens im ursprünglichen Sinne des Wortes fragwürdig. Wie ist er zu erklären? Gewinnt Hercules an Geschlossenheit, wenn - wie ebenfalls Mohnike vorschlägt - das Hauptgedicht un die folgenden Epigramme zusammengehören?

Die Zitate, auch jene der in der Originalausgabe dem Hercules angehängten Epigramme, folgen dem Text in der Ausgabe von Joann Nordstörm und Bernt Olsson. 2
NACH OBEN

 

2. Lustas Rede und deren Widerlegung in Hercules

2.1. Hercules als Sucher

Hercules wird eingeführt als junger Mann, der das Leben noch vor sich hat. Seine Unverbrauchtheit wird in der ersten Zeile gleich dreifach festgehalten. Es ist „arla ... en morgon“, Hercules steht eben auf und beginnt seinen Tag - der Tag steht doch wohl sinnbildlich für das ganze Leben – und dann heißt es noch „i första sin ungdom“:  Hercules tritt nicht einfach in seiner Jugend auf,  sondern „i första“, wirklich ganz zu Beginn des Lebens, welches er als Erwachsener in eigener Verantwortung zu gestalten hat.

Doch aller Anfang ist schwer: Hercules ist zwar frisch, unverbraucht und noch ohne Schuld, aber er ist auch unerfahren. Hercules ist sich dessen bewusst, dass er seinen Weg noch finden muss, und wird von Angst und Zweifel geplagt: „Fuller af ångst, och twijk“ (2) ist er; in Gedanken versunken und in höchster Sorge, in einem Zustande, in dem ein Mensch gewöhnlich für alle möglichen Ratschläge und Ein­flüsterungen empfänglich ist. Hercules wird denn auch von Lusta überrascht, und wie wir sehen werden, kann er sich ihrem Einfluss nicht entziehen. Doch irgendwie wissen wir von Beginn an, selbst wenn wir die Geschichte noch nicht kennen, dass sich Hercules letztlich nicht wird verführen lassen. Er sucht zwar seinen Weg, er fragt sich, wie er sein Leben beginnen solle – „huru han sitt lefwerne börja Skulle“ (2-3), doch er hat bereits Gewissheit über sein Ziel erlangt:  

Er will sich „Prijs“ und „Ähra“ erwerben, Ruhm und Ehre. Einen Leser unserer Zeit kann dies auf eine falsche Fährte locken. Die meisten, die heute überhaupt noch eine Vorstellung von christlicher Lebensgestaltung haben, bringen dieses mit einer Haltung in Verbindung, die Ruhm und Ehre als vergänglich und trügerisch und letztlich mindestens irrelevant, wenn nicht gar schädlich für das Seelenheil ansieht. Doch es gibt auch eine andere Tradition, nämlich die Auffassung, dass Ehrgeiz durchaus für vereinbar mit einem Gott wohlgefälligen Leben sei. 3

NACH OBEN


2.2 Die Kräfte der Versuchung und ihre Namen   

Immerhin ist ein starker, tatendurstiger, nach Anerkennung strebender Jüngling anfälliger für allerhand Versuchungen als ein durch Natur und Erziehung schüchterner, demütiger oder durch Lebenserfahrung gewitzter Mensch. Deshalb „trippelt“ bald einmal Lusta daher, „ett artigt Wijf“, um Hercules zu einem Leben zu verführen, welches sich im Sinnengenuss erschöpft. Während sich der Text darüber ausschweigt, wie sich der Leser Hercules äußerlich vorstellen will, und die etwas krude bildliche Darstellung, mit welcher der Autor das Werk geschmückt hat, vermutlich nicht allzu ernst genommen werden kann und soll, wird uns die allegorische Gestalt in ihrer Sinnlichkeit geschildert: Sie markiert gleich einen Gegensatz zu Hercules’ Kummer und ernsten Gedanken. Sie ist zwar „artig“, d.h. im Schwedisch des 17. und 18. Jahrhundert ‚höflich’, ‚höfisch’, ‚angenehm im Gehaben’4, aber „lätt af later, och anseend“ (5), d.h. ’leichtfertig’5, ‚leichtfertig wirkend in Gebärden und Aussehen’. Sie ist prächtig gekleidet und geschmückt (6-7), doch die Schönheit ihres Gesichts scheint nicht echt, sondern „sminkad, och färgad“. Als Leser sind wir also gewarnt; der Held jedoch scheint die Ungereimtheiten nicht zu erkennen.  Der Name Lusta selbst ist recht zweideutig: „Lust“ bedeutet im Schwedischen gleich wie im Deutschen einerseits „Verlangen“, „Begierde“, anderseits „Genuss“, „starke Freude“. Dazu kommt, dass Lust als Liebesverlangen sowohl gut als übel sein kann; deshalb wird Lusta ihr Name von ihrer Gegenspielerin in einem Wortspiel abgesprochen: Lusta müsste eigentlich Lasta, also „Laster“, heißen. Auf Schwedisch überzeugt das Wortspiel noch besser: „Lusta geer hon sigh namn; Fru Lastamed rätta mon heta.“ (290)

Ebenso wenig scheinen Hercules die Ungereimtheiten der anderen Figuren in Lustas Gefolge aufzufallen;  im Gegensatz  zu seinem späteren Leben,  wo er  von einer Prüfung zur andern eilt, tritt er uns im ganzen Text nie aktiv entgegen. Er ist nicht handelndes Subjekt, sondern die ganze Zeit Zuhörer, sozusagen die Seele, um welche die guten und üblen Mächte kämpfen.

Lusta stellt Hercules ihr großes Gefolge vor, mit dem sie ihn auf ihre Seite ziehen will. Zuerst lernt er ihre drei Töchter kennen, und hier haben wir ein erstes Beispiel für Stiernhielms Witz und Vorliebe für Wortspiele. Wahrscheinlich war ihm die eingängige Namengebung ebenso wichtig wie die Laster, welche diese drei Allegorien darstellen.

Lättja ist die Trägheit, lateinisch Pigritia oder Acedia. Die Trägheit zählt seit dem 7.Jahrhundert zu den Hauptsünden oder Hauptlastern (vitiae cardinales). Kättja bedeutet Geilheit, lateinisch luxuria. Kättja stellt auch eine Hauptsünde dar und steht ihrer Mutter Lusta besonders nahe; die andere lustbetonte Hauptsünde ist gula, die Völlerei, auf Schwedisch fulleri, welche in Hercules durch Kättjas Bruder Ruus, den Rausch, vertreten wird. Die dritte Schwester heißt Flättja. „Flättja“ bedeutet „Leichtsinn“, „Flüchtigkeit“, „Unstetigkeit“ 6 und ist in der Kirchenlehre eine mögliche Folge der Trägheit. 7 Inhaltlich gesehen ist also Flättja eher eine Tochter Lättjas denn eine Schwester. Stiernhielm war ein poeta doctus, und so können wir annehmen, dass er mit den drei Schwestern durchaus auf die drei Moiren oder Parzen oder auch die drei Nornen anspielt. Aber es bleibt beim Spiel: Die drei Damen in Hercules sind ja keine Schicksalsgöttinnen. Doch Anklänge an die Antike und das germanische Altertum gibt es auch bei anderen Figuren.

Nach dem ersten Teil ihrer Rede bringt Lusta noch weitere Verwandte ins Spiel, nämlich Fröja und deren Sohn Astrild. Fröja wird vorgestellt als die höchste der Göttinnen, als „als-lefwande Moder, och Amma“ (94). Das ist eigentlich Odins Gattin Frigg – sie kann mehr oder weniger als Entsprechung zu Hera gesehen werden; in Hercules spielen dann aber Fröja und ihr Sohn Astrild – der Name scheint Stiernhielms Erfindung zu sein – durchaus die Rolle von Aphrodite und Eros. Lusta bedient sich einer Verwirrungstaktik, die allerdings durch Unklarheiten in der nordischen Mythologie begünstigt wird. 8 Fröjas schwedischer Name mit seinem Anklang an fröjd kommt Lustas Botschaft natürlich entgegen – Hercules soll sich den Lebensfreuden zuwenden – und Astrild klingt an altnordisch ást , Gen. ástar  („Liebe“) und hildr („Schlacht“) an.

Hercules ist ein ernsthafter Sucher, und er ist sich – wie wir schon gesehen haben – seines Ziels bewusst. Wenn Lusta ihn auf ihre Seite ziehen will, muss sie gut argumentieren. Sie spricht ihn als stolzen Edelmann an: „HERCULES, stålt af modh; af blodh Hög-ädeler Herre“ (52). Sie geht auf seinen Gemütszustand ein und bedauert seine Angst und sein Zögern: „Hwad för en ångst, och qwal är then titt Hierta betungar? / Hwad för twijkan är i tin Hug?“ (53-4) Sie nimmt damit die Stichworte auf, die wir schon aus den ersten Zeilen des Gedichts kennen, wo Hercules eingeführt wird.
NACH OBEN

 

2.3 Lustas Angriff auf die Kardinaltugenden

Dann beginnt sie ihren Angriff auf Hercules’ Charakter. Hercules sei in der Blüte seiner Jugend und solle diese nicht ungenutzt verstreichen lassen. Sie mahnt Hercules an die Vergänglichkeit und verwendet das Stilmittel der Anapher, um ihn daran zu erinnern, dass der Tod das Ende von allem sei (67-73). Der Tod selbst sei nichts; eine Formulierung, die an den Ackermann aus Böhmen erinnert. 9 Der Gedanke an die Vergänglichkeit, die vanitas, und die Aufforderung, die Zeit zu nützen, ist durchaus christlich – oder er kann es sein. Lusta macht sich hier wie auch später noch die Zweideutigkeit von Wörtern und Gedanken zunutze. ‚Nutze die Zeit’ kann heißen ‚leiste etwas Wesentliches’, ‚nutze deine Talente’, ‚handle im Hinblick auf dein Seelenheil und im Gedanken an die Endlichkeit deines Lebens’.  Die Zeit ist ein kostbares Gut,  wir sollen sie nicht verschwenden. Doch die Aufforderung kann auch ganz anders verstanden werden: Bald ist die schöne Zeit unseres Lebens vorbei, lasst uns das Leben genießen, solange wir können. Πάνταρεϊ, carpe diem also. Dieses carpe diem läuft dann bei Lusta auf die Formel ‚Wein, Weib und Gesang’ hinaus: „Skön Qwinfolck, lustige Bröder, / Spel och Sång, godt Wijn, miuk Säng, och kräslige Rätter“ (88-89). Das muss auf Stiernhelms Leser ebenso platt gewirkt haben wie auf ein heutiges einigermaßen differenziertes Publikum.

Nach einem Übergangsabschnitt folgt dann eine weitere Attacke, und zwar die auf Bildung und Gelehrsamkeit. Diese ist, meint Lusta, unter der Würde eines Edelmanns. Soll er seine Finger mit Tinte bekleckern, wenn er das Frauengemach aufsuchen will? (124-6) Diese Geringschätzung ist perfid, denn Bildung und Gelehrsamkeit sind wesentliche Bestandteile der σοφία oder sapientia, der Weisheit, einer der klassischen Kardinaltugenden. Diese Tugenden führen zur Glückseligkeit, der ευδαιμονία, dem höchsten Gut, dem αγαθόν oder summum bonum. Dieses entsteht durch eine Harmonie der Seelenkräfte unter der Kontrolle des Verstandes, und gerade diese Oberherrschaft der Vernunft macht die Harmonie erst möglich.

Für einen heutigen Leser steht hier wohl eher der Spaß an der Lektüre im Vordergrund, denn es ist ja klar, dass Lusta Hercules auf den Holzweg führen will. Lusta appelliert an seinen Standesdünkel in einer Zeit, da in Schweden der Adel gut beraten ist, seine privilegierte Stellung im Staatsdienst gerade eben durch Charakterstärke und Bildung zu rechtfertigen und zu festigen. In der Zeit kurz vor der Entstehung des Hercules, um 1640 herum, steigen in zunehmendem Maße Bürgerliche in den Adelsstand auf. Gegen diesen Verdienstadel wird der alte Adel, der seine Ahnen bis in heidnische Zeit zurückverfolgt, das Nachsehen haben, wenn er sich aufs Faulbett legt. (464-475) 10 Von Stiernhielm war diese Botschaft sehr wohl ernst gemeint.

Lusta stellt dem adligen Hercules, falls er denn doch nicht auf Bücher verzichten will, einen Literaturkanon zusammen, an den er sich halten soll. Ovid steht auf der Liste, aber es finden sich auch Romanzen aus dem Mittelalter sowie Boccaccios Decamerone darauf; wenn er dann etwas ‚anspruchsvollere’ Kost sucht, stehen Rabelais’ geistreich verspielter Roman Gargantua und Pantagruel sowie der pikareske Schelmenroman zur Verfügung. Das wirkt sehr witzig; die Empfehlungen wirken wie eine Parodie und enthalten doch alles Werke, die noch heute in der Literaturgeschichte durchaus ernst genommen werden. Für diese Art Literatur ist Flättja zuständig – sie steht ja für Leichtsinn, Flüchtigkeit ohne Tiefgang. Wieder begegnet uns hier die schon erwähnte Zweideutigkeit: Gegen die aufgezählten Werke an sich ist wohl auch von Stiernhielm aus nichts einzuwenden, der „Sündenfall“, zu welchem Lusta Hercules verleiten will, besteht darin, dass sie ihn dazu ermuntert, sich um schwerere Kost und moralisch mehr verpflichtende Werke zu drücken.

Lättjas Domäne ist das Kartenspiel: für viele eine beliebte Freizeitbeschäftigung, für andere der Inbegriff des Zeitvertreibs, ja des Zeittotschlagens. Hier unterläuft Lusta gleichsam ein freudianischer Lapsus: „Til tijn tijds-fördärf (fördrijf, iag ärnade säya)“ (152).

Doch dann wird ein bedeutenderes Thema angegangen. Wiederum macht Lusta einen Angriff auf eine der Kardinaltugenden, die Tapferkeit (ανδρεία, fortitudo). Alles ist noch etwas kecker und dicker aufgetragen als im Feldzug gegen die Weisheit, dafür ist der Spaß des Lesers daran wohl noch größer. Hercules’ Verrat an der Tapferkeit wird angestrebt mit der Aufforderung, eine andere Tugend zu pflegen, die Besonnenheit oder Mäßigung (σωφοσύνη, temperantia). Seine Tapferkeit soll Hercules gleichsam dosieren.

Hercules soll nicht Diana dienen und sich den Gefahren der Jagd im Walde aussetzen, die unter anderem auch der militärischen Ertüchtigung dienen würde. Damit will Lusta Hercules seiner ständischen Bestimmung entfremden: Jagd und Kriegshandwerk sind ja beides Haupt­domänen des Adels! Lusta empfiehlt Hercules in höchst anzüglicherweise die Jagd auf anderes Wild, welches viel weniger gefährlich ist und weit größeren Lustgewinn verspricht: die Schürzenjagd. Kättja und Astrild sind bei diesen Abenteuern Hercules’ Führer und Gehilfen.

 

Rådiur, och hinner, af huld, swan-hwijt’, och leene som ullen;

Af sööt-suckr-drypande mun; röde-rosende Läppar;

Kärlige, säflige Diur; fijn-liuflige, fooglige Tärnor;

Hitzige, kitzlige, modige, frodige, kåte Madusor:

Spake som däggiande Lamb; och wilde, som Hiortar i brunsten.

Theß’ äre Diuren, opå dem du skalt öfwa tin Mandom.

(168-173)

Ordinärer und anderseits witziger geht es nicht mehr. Wie auch an andern Stellen in Hercules zündet hier Stiernhielm ein rhetorisches Feuerwerk. Dieses soll weder hier noch anderswo zerredet werden, als Beispiel mag Zeile 173 dienen: fünf asyndetisch verwendet Adjektive, von denen vier in zwei Reimpaaren zusammengenommen sind, das fünfte Adjektiv fällt auf, weil es im fünften Versfuß ausnahmsweise zu einem Daktylus gehört, wo doch an dieser Stelle gewöhnlich ein Spondeus steht.  In der Waffenübung soll sich Hercules nach Lustas Meinung ebenfalls zurückhalten. Mäßigung wird hier wörtlich empfohlen: „Doch med måtta så måste thet skee“ (185). Dann lenkt Lusta Hercules von der dem Adel wohl anstehenden Übung im Gebrauche der Waffen überhaupt ab und macht ihm andere Tätigkeiten schmackhaft. Tanzen ist als Leibesübung gesund und Hercules’ Gunst bei den Damen erst noch förderlich.

 

Als Ersatz für seine Streit- und Kampflust bietet Lusta Hercules unter der Führung von Ruus die Trinkgelage an. 

Kommer i Fält moot tig, en flock aff fuchtige bröder;

Tappert sätter han an, med sådan en ijfwer, och alfwar,

Att han i lisla stund, skal fälla de modige Hieltar,

(Som rätt-nu stodo käck, och köne) som Oxar i golfwe.

Komme ther hoo som wil, han weet them möta med alfwar.

(195-9)

Zu diesen Trinkgelagen versammelt sich eine weltläufige Gesellschaft; die Zecher kommen aus aller Herren Ländern – Frankreich, Italien, Schweden und Deutschland. Ähnlich wie in der Liste der empfohlenen Bücher lässt nun Lusta Wein und Bier aller möglichen Provenienzen Revue passieren. An die Stelle der Büchsen und Schwerter, Feldschlangen und Morgensterne treten Becher, Humpen und Pokale. Spätestens jetzt wird die Besonnenheit der Verachtung preisgegeben. An das Wetttrinken schließt sich nämlich ein deftiger Wirtshausstreit an, der in ironisch-heroischem Stil geschildert wird (mock-heroic, 238-248).

Vielleicht den niederträchtigsten Rat hat sich Lusta fast bis zum Ende ihrer Überzeugungsrede aufbewahrt. Hercules solle sich keine Sorgen machen wegen Ruhm oder Laster, Schande oder Ehre: Ehre und Schande seien „Wind“, ein guter Name sozusagen Schall und Rauch „ohne Gewinn“ (251). Als Edelmann dürfe er sich über „Bauern und dergleichen Pack“ (254) erheben und im Gegensatz zu diesen sich über das Gesetz hinwegsetzen. Das ist nicht nur moralisch verwerflich und zutiefst unchristlich, sondern widerspricht, wie oben schon gesagt, auch den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten in Schweden in der Mitte des 17. Jahrhunderts.

 

Lustas Verführung zur Hoffart – das ist auch eine der Hauptsünden (Hochmut, superbia) – findet ihren poetischen Abschluss in einem Vierzeiler, in welchem wieder einmal höchstes Lesevergnügen geboten wird:

Spinnelen i siijn Garn bestrickar spinkote Myggar;

Getinga snorra sig vt, och slippa de brummande brömssar.

Sådan är almena Lag; de Fattige fasna, besnärias;

Stolte och store gå frij, och slippa de trotzige Drottar.

(255-8)

Die Metapher ist anschaulich: Im Gegensatz zu kleinen Mücken entkommen Hornissen und große Bremsen dem Netz, mit dem die Spinne sie fangen will. Dass mit den Mücken die Bauern und mit den Hornissen und Bremsen die Adligen gemeint sind, liegt auf der Hand. Wenn er sich die Sache gut überlegt, muss sich Hercules aber dafür bedanken, mit Insekten, insbesondere lästigen Bremsen, verglichen zu werden. Zur Eingängigkeit dieser Zeilen trägt (wie oft auch sonst im Gedicht) der Stabreim bei: „Spinnelen ... spinkote“, „snorra ... slippa ... besnerias ...slippa“, brummande brömsar“, „Fattige fasna“, Stolte och Store“, „trotzige Drottar“. 11  Spätestens hier ist festzuhalten, dass Stiernhielm wieder einmal mit der Zweideutigkeit von Begriffen von Vorstellungen spielt. Lusta will Hercules weismachen, dass ein Mann aus alter Adelsfamilie sich nicht um die Tugenden zu kümmern brauche, dass also der Geburtsadel ohne Seelenadel auskommt. In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall.  

Zu allerletzt fordert Lusta Hercules dazu auf, den bequemen Weg ins Verderben 12 zu gehen. Dieser ist breit und eben und führt in eine liebliche Landschaft, die sehr suggestiv geschildert wird: Die Gegend ist schön und zugleich fruchtbar, alle Sinnen werden angesprochen. 13 Kein Wunder, dass Hercules aus fehlender Erfahrung und aus Unbedacht („som en ung och hitziger Herre“ 273) drauf und dran ist, Lusta zu folgen.
NACH OBEN


2.4. Die Antwort der Tugend 

Die Tugend tritt sogleich Hercules entgegen, um ihn vor Unheil zu bewahren. Sie spricht ihn, gleich wie Lusta es getan hat, auch als Mann aus edlem Geschlecht an, doch anders als Lusta zeigt sie keine Geringschätzung für die Ehre. Sie greift damit Hercules’ ursprünglichen Wunsch auf, den Weg zu finden, der ihn zu Ruhm und Ehre führen kann. Ehrgeiz ist, wie Sven Delblanc ausführlich dargelegt hat, durchaus mit einem christlichen Leben vereinbar, ja dem gelebten Christentum eines Edelmannes angemessen. 14 Es ist bemerkt worden, dass die Tugend im Gegensatz zu Lusta nicht als „wijf“ bezeichnet wird, sondern als Gestalt „i Frus hampn, menskelig ansedd, / Doch icke Menniskia: men een trofast ädle Gudinna“ (275-6). Sie erscheint nur in weiblicher Gestalt, ist aber kein Mensch, sondern göttlicher Natur. 15  Das trifft natürlich zu, jedoch ist auch Lusta keine wirkliche Frau von Fleisch und Blut, sondern eben eine Allegorie. Der Rangunterschied zwischen den beiden bleibt aber bestehen, denn nur die Tugend wird zur „Gudinna“ erhoben. 16

In ihrer Gegenrede warnt Dygden, wie wir sie nennen wollen, Hercules vor Lusta. Diese sei keine Göttin, wie er meine, sondern sie stamme vom Stygischen Pfuhl und sollte, wie in diesem Aufsatz bereits erwähnt, eigentlich „Lasta“(‚Laster’) heißen. (288-290) Vielleicht hebt Stiernhielm die Tugend auch dadurch vom Laster ab, dass er ihr keinen Namen gibt, der missbraucht oder fehlgedeutet werden könnte. In diesen Zusammenhang gehört, dass Dygden auf Wortspiele verzichtet, dafür mehr Metaphern verwendet. Dann knüpft Dygden an Lustas Schlusswort an. Der bequeme Weg, den Lusta Hercules empfohlen habe, führe ins Verderben. Eindrücklich ist Dygdens Bild von diesem Wege. Er neigt sich unmerklich, bis er so steil wird, dass der Reisende keinen Halt mehr findet und ins Verderben stürzt. (293-303)

Das Ziel ist aber das Paradis der Seligkeit, „sälheetz Paradis“ (304), die schon genannte Glückseligkeit, das höchste Gut. Dahin führt aber nur ein schmaler, steiniger, steil ansteigender Weg, mit Disteln und Dornen bewachsen. (304-312) Dann winkt Hercules die Einkehr in „saligheetz hallar“ (315) mit Hilfe von STYRK und TRÖST 17, wo Lust und Freude auf höherer Ebene winken. Mühe und Arbeit werden durch die Gnade Gottes und die Gunst der Menschen belohnt, und Hercules wird dann von allen geehrt. (312-320)

Nun warnt Dygden Hercules vor Fröja und ihrem Sohn und geht auf Lustas Ermunterung zu fröhlichen Trinkgelagen ein. Überfluss an Speise und Trank beeinträchtigt den Verstand. Der Prasser ist wie ein Ochse, der gemästet und dann zur Schlachtbank geführt wird. (321-380)

Dann kommt ein wichtiger Abschnitt, in welchem sich Dygden über das Wesen der Seele ausspricht. Die Seele ist in allen Menschen  von himmlischer Art, doch wird sie von den einen ver- nachlässigt und von den anderen gepflegt: Sie ist wie ein Edelstein, den man aus seinem Rohzustand zum Glänzen bringt: „hon waskas, hon skijres och krattsas, / Glättas, och igrafz allrahand prydlige form’ och figurer“ (424-5). Arme Leute aus dem Bauernstand – „Kåtkarla, Torpare, Träler, och almena Pack“ brauchen die Seele nur gerade wie Salz, um sich den Leib vor dem Verfaulen zu bewahren. (429-30) Stiernhielm bewegt sich in seinem Menschenbild zwischen ständischem Denken (und auch ständischem Vorurteil, jedenfalls gegenüber dem Bauernstand) und der Vorstellung von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen. Die Bauern (oder zumindest die bäuerliche Unterschicht) zeigt er als stumpfe, unerlöste Masse, von der sich ein ernsthafter, nach dem Guten strebender Mensch abhebt. Mit edler Abkunft und Gelehrsamkeit ist es nicht getan, ohne Menschenliebe ist alles eitel.

 

Om än allhanda Lärdom,

Alsköns Dygder, och Himlisk wet dit hierta bekröna;

Och den ädele mildheet alleen hon fattas i Cronan;

Så är all’ öfrige Dygder af intet lius, utan anseend.

(444-7)  

Das klingt an 1 Korinther 13 an: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ 18  Liebe und „Mildhet“ sind, wie auch Mohnike meint,  einander nahe verwandt.  Mildhet hat hier nicht nur die engere Bedeutung ‚Freigebigkeit’, ‚Großzügigkeit’, sondern heißt auch ‚Milde’, ‚Freundlichkeit’. 19 Wenig später folgen die Zeilen, welche Dygdens Gegenposition zu Lusta zusammenfassen. Der genießerische Egoismus oder Hedonismus, den Lusta predigt, wird entschieden verworfen. Er entspricht nicht unserer Bestimmung:

 

Födder är ingen Man för sijn skull alleen hijt i werlden,

För sijn omätlige lust, eller all-stund-torstige swalg skul,

Fåt hafwer ingen lijf.

(453-5)

In der „goldenen Kette“, die auf diese Stelle folgt, wird erklärt und veranschaulicht, was damit gemeint ist. Die Welt ist, wie Mohnike es in Worte fasst, „ein Netz der Beziehungen, in der nichts allein, alles mit allem  aber  verbunden ist“. Pflanzen und Tiere  sind  dem Menschen  untertan, und die Menschen sind einander zu gegenseitigem Nutzen zugeordnet, insbesondere auch die Leute unterschiedlichen Standes. 20 Stiernhielm betont aber vor allem die Verpflichtung der Mächtigen, also gerade des Adels, gegenüber den Schwachen!  (458-463)

Adel verpflichtet zu ehrenhaftem Leben, im Einklang mit einer von antikem Gedankengut mitgeprägten Gesinnung. Das gebieten aber auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse Schwedens in der Großmachtszeit. Gesellschaftlicher (und ständischer) Aufstieg und Abstieg sind sehr wohl möglich, wie schon oben erwähnt. 21 Daraus ergibt sich von selbst Dygdens Aufforderung an Hercules, ehrenhaft zu leben. Und nun spricht auch Dygden von der Vergänglichkeit, aber sie kommt dabei zu andern Schlüssen als Lusta.

 

Vngdomens åhr uthi brunst rasa fort, som en ijlande hwirfvel,

Hwarföre gif god acht opå glaset, at Tijden i hwimsku,

Ey löper hän: men lär och gör hwad gott är i tijda.

Tänck hwad et osnygt Diur, en gammal, och dygde-lös Man är.

(491-4)

Dass uns die Zeit enteilt: Haben wir das nicht schon einmal gehört? Dygden zieht aus dem Gedanken an die Vergänglichkeit aber einen ganz anderen Schluss. Die Zeit ist uns gegeben, auf dass wir reifen. Der Prasser wird zum Ochsen, der zur Schlachtbank geführt wird. Ein alter Mann, der nicht weise geworden ist, ist verachtenswürdig, denn er ist wie ein unvernünftiges Vieh.    

Kurz vor dem Ende des Gedichts bringt Stiernhielm die wohl schönste Metapher; sie erstreckt sich über 11 Zeilen. In seinem Alter gleicht ein Mensch einem baufäligen Hause:

 

Ålderen har sin wank; när stöd, och stolparna bugna,

Gaflarna luta fram ut, och wäggarna slå sig i rämnor,

Taket gristnar i dropp, och huset begynner at braka;

Qwarnen har ingen gång, eller gny, och fänsterne mörkia;

Malört utur hwar knut, döfwe näslor i spryngjorne wäxa;

Hanan å gyllande brand, springer inte meer om, lookar halsen,

Lyder alzingen wind; men henger, och hotar at falla;

Harpan hon är förstämbd; lyder intet; strängiarne snarra.

Tå är i samma palatz slätt lust meer: frögden är vte;

Gästebod, Harpor, och danß hörer op; både tiänsthion, och Husbondn

Tänckia sig om, huru the må huset, och Härberge ryma:

(496-506)

Anschließend wird diese Metapher – eigentlich unnötigerweise – erläutert. Gerettet wird diese Ausdrücklichkeit durch weitere Bilder: „Dreifüßig“ müssen wir uns zuletzt bewegen, Winterblumen sprießen auf dem Kinn, die Haare fallen aus wie Laub von einer Espe. Wehmütig und vielleicht beängstigend wirken diese Zeilen, weil wir beim Lesen daran denken können, dass uns selbst dieser Zerfall einmal droht.

Die Schalkhaftigkeit, die Stiernhielm im ersten Teil des Gedichts entfaltet, tritt im zweiten Teil verständlicherweise zurück, da jetzt Dygden ihre ernste Botschaft den flachen Verführungen Lustas entgegen­stellt. Doch ganz ist der Schalk nicht verschwunden. Wir glauben ihn schon wiedererkannt zu haben, als der Schlemmer mit einem Mastochsen verglichen ward. Und auch in der Hausmetapher werden wir bei allem Ernst des Themas zum Schmunzeln gebracht, etwa durch die Beschreibung des verrosteten Wetterhahns. NACH OBEN

 

3.  Hercules und die Epigramme

Der geistige und körperliche Zerfall eines Menschen wird drastisch geschildert, und danach ist ganz Schluss: „Döden är yttersta målet, i dy wij samkas, och ändas.“ (521) Fast alle Untersuchungen, deren ich habe habhaft werden können, finden, dass eine Abrundung des Gedichts durch einen Hinweis auf Hercules’ Reaktion unnötig sei, da man ja wisse, wie Hercules handeln werde.

Das mag wohl so sein, dennoch werde ich den Verdacht nicht los, dass die Literaturwissenschaftler angesichts der eindrücklichen Figur Stiernhielm vor Ehrfurcht erstarren. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Die fleißigen und klugen Untersuchungen sind nötig gewesen, um uns Stiernhielm und seine Dichtung näher zu bringen. Doch ist nicht ganz einleuchtend, warum Stiernhielm im Hercules, den er doch stilistisch und auch kompositorisch so meisterlich gestaltet, auf eine geeignete Abrundung irgendwelcher Art verzichtet. Das Gedicht hat einige wenig, inhaltlich jedoch sehr dichte Einleitungszeilen, in denen der Erzähler spricht, und dieser führt uns dann auch von der einen Rede hinüber zur andern. Es ist nicht einzusehen, warum der Rahmen nicht geschlossen wird. Das müsste ja nicht auf plumpe Art geschehen, und wir können Stiernhielm zutrauen, dass er dies hätte leisten können.

Das Manuskript blieb mehrere Jahre lang unveröffentlich, und zwar solange Königin Christina regierte. Stiernhielm war nicht gerade in Ungnade gefallen, doch wurde er in seiner Karriere ein paarmal übergangen. Abschriften zirkulierten in Stiernhielms Bekanntenkreis. 22 Vielleicht ergab sich aus der langen Karenzzeit von der Entstehung des Gedichts bis zu seiner Veröffentlichung eine Unsicherheit über die Gestaltung des Schlusses, so dass Stiernhielm am Ende darauf verzichtete. Möglicherweise ist der offene Schluss aber auch als gestalterische Provokation gedacht, so wie Dygdens Worte über den Adel die Zeitgenossen auch herausgefordert haben mögen.

Eine neue Erklärung hat Mohnike geliefert 23, und sie könnte uns in der Tat des Rätsels Lösung darstellen oder uns dieser Lösung jedenfalls wesentlich näher führen. In den Hercules-Ausgaben bis 1727 folgen dem Haupttext drei Öfwerskrifter, epigrammartige Gedichte, welche – so argumentiert Mohnike - doch wohl vom Verfasser nicht zufällig beigefügt wurden, sonden mit dem Hercules zusammen ein Ganzes bilden sollen. Sie erschließen dem Leser einen Sinn auf mehreren Ebenen, ähnlich wie in dem vierfachen Schriftsinn in der Bibelauslegung. Wie konsequent dieser Ansatz auf Hercules anwendbar ist, bleibt meines Erachtens allerdings offen; Stiernhielm hatte zwar Zugang zu auch beim Schreiben seinen Freiraum  offen gehalten haben.   In künstlerischer Hinsicht stehen jedoch sein spielerischer Umgang mit Worten und seine Fabulierlust einem konsequenten Handhaben des vierfachen Schriftsinns eher entgegen, auch wenn Mohnike einen hilfreichen Ansatz zur Interpretation liefert.

Das erste Epigramm, welches auf Hercules folgt, handelt von der Macht der Liebe. Der Sprecher des Gedichts beklagt sich darüber, dass seine Liebste in ihm gleich wie Astrild zwar starke Gefühle weckt und sein stolzes Herz verwundet, selbst aber kalt wie Eis und Schnee bleibt: „Sielf är Hon Ijs, och Sniö“ (Opå Astrild, som står, och slipar sijne Pijlar, 6). Da sich der Erzähler von der Beziehung dadurch etwas distanziert, dass er nicht die Geliebte anspricht, sondern sich an einen Dritten, vielleicht den Leser wendet, sieht Mohnike im Anschluss an Olsson eine Erweiterung des Themas „über das Partikuläre der Qual eines einzelnen Liebenden hinaus [in ] die Allgegenwärtigkeit und Wirkungsmacht der Liebe...“ Das Epigramm ist dann in Beziehung zu setzen zu den Versen 98-102 und 163-179 in Hercules. Dort geht es darum, dass Hercules die Frauen erobern soll, hier hingegen steht das Ich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einer Frau. Die Milde der Frau im Epigramm – „Mild är hon, och spijsar ut det Hon sielf hwart äger, ell’ åtte“(Opå Astrild, 6) – ist vielleicht nicht bloß ironisch aufzufassen, sondern in Beziehung zur menschlichen Tugend der Milde (und Liebe) sowie der Güte Gottes  zu bringen (Hercules, 444-452, vgl. oben!). Nach Mohnike erschließt sich hier der anagogische Sinn des Hercules: Der Mensch soll seine Liebe letztlich auf Gott richten, der jenseits aller Zeit steht. 24

Das zweite Epigramm beziehen Olsson und Mohnike auf die Tugend. Die unscheinbare Spinne wirkt ihr Netz „fuller af artiga Snille“ (2– so ist mancher Mensch von geringem Stande und Ansehen und doch klug und erfindungsreich: „Konst/ Mod/ Wett binds ey till Härkomst/ Stånd/ eller anseend.“ (Opå en Spinnel, som wirkar sitt Dwärgs-näät, 5) Diese Tugenden sind also nicht an den Adel gebunden, und die provokative, fortschrittliche Auffassung von der Durchlässigkeit der Stände im Haupttext des Hercules wird dadurch gestützt.  Was Mohnike verschweigt,  ist,  dass die Spinne in

diesem Epigramm ihr Gegenstück im Haupttext hat (Hercules, 255-8); dort steht das Netz gleichsam für Gesetz und Ordnung im Staate; hier wird nun die Spinne in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, also – wenn man will – der Gesetzgeber.

Das dritte Epigramm drückt in einer Metapher aus, wie ein Adliger leben soll – „wie der  Mond in Harmonie mit sich seinen Weg geht, so geht der last-lose Mann den Weg der Tugend zum summum bonum, auch wenn Neider und Spötter ihn belästigen. ‚Last-lös’ ... meint sowohl unbeschwert als auch lasterlos.“ 25 Wenn wir an die Aufweichung oder Ausweitung des Adelsbegriffes im zweiten Epigramm denken,  dann gilt die Botschaft für alle Leute ohne besondere Rücksicht auf den Stand.  Mit dem Einbezug der drei Epigramme ist erreicht, dass Hercules nicht einfach abbricht. Das Gedicht wird durch die Epigramme abgefedert und bereichert. Die Moral ist nicht ohne weiteres erkennbar, sie muss zuerst erschlossen werden, wenn man Olssons und Mohnikes Deutung folgt.

Ein elitärer Zug bleibt dem Gedicht erhalten, er besteht neben allem, was sonst darin unmittelbar anspricht und zugänglich ist. Hercules selbst kommt also nicht zu Worte und es bleibt ein Ungleichgewicht: Während wir ihn zu Beginn als Sorgenden und Fragenden kennen lernen, wird am Ende nicht ausdrücklich gesagt, wie sich Hercules entscheidet, ja wir bekommen nicht einmal eine Antwort irgendwelcher Art, die erkennen oder vermuten ließe, wie er die Reden aufnimmt. Es kommt mir so vor, als ob er in Gedanken verharre und ihm sozusagen aus anderer Quelle weitere und vielleicht abrundende Anstöße gegeben würden.

NACH OBEN

 

4. Zusammenfassung und Ausblick

Die Gestalt des Gedichtes ist vor allem durch die Gegenüberstellung der beiden Reden im genus deliberativum  geprägt. Lustas Worte werden durch ihre Gegenspielerin, Dygden, widerlegt. Wortspiele und das sophistische Spiel mit ethischen Werten und anderen philosophischen Gedanken sind kennzeichnend für Lustas Rede, während Dygdens Antwort die Argumente Lustas widerlegt und stark durch Metaphern geprägt ist, aber auf Wortspiele weitgehend verzichtet. Der Rahmen des Hercules, jedenfalls des „Kerngedichts, ist unvollständig. Das Gedicht hat eine Einführung, die den Helden in seinem Fragen und Zweifeln zeigt und ihm zunächst Lustas Rede und ihrem Gefolge aussetzt, sowie einen kurzen Übergang von Lustas Rede zu jener der Tugend, nicht aber einen Abschluss in irgendeiner Form, in dem von Hercules’ Entscheidung oder zumindest seiner gedanklichen oder gefühlsmäßigen Stimmung nach den beiden Reden gesprochen würde. Es stellt sich die Frage, ob Stiernhielm sich für eine formale Abrundung des Gedichts nicht habe entscheiden können oder ob der Schluss sogar aus provokativer Absicht offen geblieben sei. Weiter bringt Mohnikes Interpretation des Hercules und der Öfwerskriffter als (etwas getarnte) Einheit

immerhin eine befriedigendere Antwort als die Bemerkung, es sei ohnehin klar, wozu sich Hercules entschließe.

Inhaltlich ist zu vermerken, dass Stiernhielm hier zwar Variationspoesie schreibt, gesellschaftlich aber mit seinen Äußerungen über den Adel doch einen gewissen Zündstoff liefert und jedenfalls mit der politischen Entwicklung in Schweden Schritt hält.

Hercules markiert den Beginn moderner schwedischer Dichtung. Meines Erachtens wäre es an der Zeit, das Gedicht in einer zitierbaren, einigermaßen wohlfeilen Ausgabe in normalisierter Schreibung zusammen mit dem Glossar und den Anmerkungen von Nordstörm und Olsson verfügbar zu machen. Das Gedicht ist uns fremd genug, auch ohne die heute exotisch wirkende Schreibung. Die Normalisierung sollte natürlich den Text an sich nicht verfälschen und Unterschiede in Grammatik und Aussprache respektieren: Z.B. sind j und h in Wörtern wie sättja, läggja und hvari, hvirvel  beizubehalten, weil diese Schreibungen einem älteren Lautstand entsprechen, der zu Stiernhielms Zeit noch galt. 26 Mit einer sanften Modernisierung der Rechtschreibung wird das Gedicht für heutige Leser viel zugänglicher. Was für die isländischen Romane des Mittelalters und Shakespeare sinnvoll und richtig ist, ist es auch für Stiernhielm. 
NACH OBEN

 

ANMERKUNGEN

1Mohnike, Thomas. Mehrstimmigkeit barocker Repräsentation. Der Paratext in den ausgaben von Georg Stiernhielms Hercules und sein Einfluss auf die Interpretation. In: Baumgartner, Walter (Hrsg.). Ostsee-Barock. Texte und Kultur. (Nordische Geschichte, Universität Greifswald, Bd.4). Berlin: LIT 2006, S. 243-5.

2 Stiernhielm, Georg. Hercules. In: Nordström, Johan und Olsson, Bernt (Hrsg.). Samlade skrifter av Georg Stiernhielm. Första Delen: Poetiska Skrifter. (Svenska författere. Utgivna av Svenska Vitterhetssamfundet, Band 8). Lund 1973 ( Stockholm: Bonniers 1929).

3 Sven Delblanc. Hercules magnanimus. Ett bidrag till tolkningen av Stiernhielms Hercules. Samlaren 82 (1961), S. 5-72.

4 Svenska akademiens ordbok [SAOB], Spalte A2402, Stichwort „ARTIG“, Bedeutung 2a.  http://g3.spraakdata.gu.se/saob/index.html. (18.11.2007)

5 SAOB, Spalte L1712,  Stichwort „LÄTT“, Bedeutung 4cb.

6 SAOB, Spalte F990,  Stichwort „FLÄTTJA“, Bedeutung 2a.

7  Schäfers, Michael. Prophetische Kraft der kirchlichen Soziallehre? Berlin usw.: LIT Verlag 1998, S. 405.

8 Frigg wurde Odins Gattin nach dem Krieg zwischen den Asen und den Vanen angetraut. Dass sie wohl ursprünglich zu den Vanen gehört, wird durch ihren Namen nahegelegt. Dieser geht auf eine idg. Wurzel *pri- zurück, ist mit ‚freien’ verwandt und bedeutet so viel wie ‚Liebende’. Das passt eigentlich besser zu Freya, deren Name auf *fraujôn zurückgeht, Herrin bedeutet und eigentlich Frigg wohl anstünde.Schwedisch Fröja ist die lautgesetzliche ostnordische Entsprechung zu Freya. Zu Frigg siehe Julius Pokorny. Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, 2 Bde. 5. Aufl. 2005. Marburg: Francke 2005.

 http://www.indo-european.nl/cgi-bin/response.cgi?single=1&basename=\data\ie\pokorny&text_recno=1550&root=leiden. (18.11.2007)

9 „Du fragest, was wir sein. Wir sein nicht vnd sein doch etwas. Deshalben nicht, wann wir weder leben weder wesen, noch gestalt noch vnderstant haben, nicht geist sein, nicht sichtig sein, nicht greiflich sein; deshalben etwas, wann wir sein des lebens ende, des wesens ende, des nichtwesens anfang, ein mittel zwischen in beiden.“ Johannes von Tepl. Der Ackermann aus Böhmen. München: Goldmann 1972, Kapitel 16, S. 30-1. Das Wort „nicht“ hat hier noch die Bedeutung „nichts“.

10 Damals galt in Schweden eine Neuordnung der Gesellschaft in vier (nicht nur drei) Stände. Die Aufgabe des Adels war der Staatsdienst, jene des Klerus die Kirche, die des Bürgertums der Handel, das Handwerk und die Manufaktur sowie jene des Bauernstandes natürlich der Landbau. Der Staatsdienst brachte dem Adel Privilegien, aber auch beträchtliche Pflichten, unter anderem jene der Repräsentation, für welche der Betreffende finanziell selbst aufkommen musste. Der Adel wurde in seinem Reichtum und Lerbensstil zunehmend vom erfolgreichen Bürgertum bedrängt. Zu einer Karriere im Königreich brauchte es auch die nötige Qualifikation: neben dem persönlichen Ansehen auch Bildung. Diese aber war neben dem Klerus auch dem Bürgertum zugänglich. S. dazu: Englund, Peter. Det hotade huset. Adliga föreställningar om samhället under stormaktstiden. Stockholm 1989, zusammengefasst bei Mohnike.

11 Diese Stabreime mögen nicht alle ganz „sauber“ sein: „snorra“ und „slippa“ etwa, doch werden weitere Wörter auf sl und sn nachgeliefert („besnerias“ und wiederum „slippa“), so dass eine Art gekreuzter Stabreim entsteht; „trotzige Drottar“ ist auch nicht ganz rein. Doch „Drott“ geht auf „Þróttr“ zurück, und Þ wird im Schwedischen außer in unbetonten Wörtern gewöhnlich zu „t“. Wie unterschiedlich „tr“ und „dr“ in diesem Falle damals ausgesprochen wurden, bleibe deshalb dahingestellt. Die Ähnlichkeit ist auf jeden Fall gegeben.

12 Die Vorstellung kommt ursprünglich aus der Bergpredigt (Mt 7, 13-27). Siehe dazu: Betz, Hans Dieter. Studien zur Bergpredigt. Tübingen: Mohr Siebeck 1985, S. 138. 

13 Zu Stiernhielms Bildsprache siehe auch: Hallberg, Peter. Diktens Bildspråk. Teorie, Metodik, Historik. Göteborg: Esselte 1982.

14 Delblanc, S. 19ff. Die Verquickung von Ehre und Ehrgeiz mit der Tugend geht auf eine lange Tradition zurück und ist edlen, großmütigen Menschen zugeordnet, ein Kennzeichen der magnanimia oder μeγαλοψυχία: Die Linie dieses Gedankens führt von der antike zum Christentum: von Aristoteles über Cicero und Thomas von Aquino bis zu Stiernhielms Zeitgenossen und Landsmann Alstedius (Delblance, S. 19ff.). Diese Auffassung grenzt sich sowohl gegen den Stoizismus ab, der von äußerer Ehre nichts hält, als auch gegen den von Lusta vertretenen Epikurismus in Hercules 250-1 (S. Delblanc, S. 43).

15   Mohnike, S. 250, legt Wert auf diese Unterscheidung.

16 Außerdem ist für das 17. Jahrhundert denkbar, dass im Schwedischen der Bedeutungsunterschied zwischen viv und fru etwa demjenigen zwischen „Frau“ und „Dame“ im modernen Deutsch entsprach. Im SAOB ist das Wort noch nicht enthalten, und Hellquist gibt keine näheren Angaben zu Gebrauch und Stilebene des Wortes. S.  Hellquist, Elof. Svensk etymologisk ordbok. Lund: Gleerup 1922. http://runeberg.org/svetym/1230.html (18.11.2007)  Heute wird „viv“ nur noch poetisch und dialektal gebraucht und wohl noch seltener als  „Weib“ im Deutschen.

17  Dygden ist also auch nicht ganz allein, wie oft behauptet wird. Sie hat immerhin Styrk und Tröst in ihrem Gefolge.

18 Auf diese Ähnlichkeit weist nach Mohnike, S.263, bereits Bernt Olsson hin. (Olsson, Bernt. Den svenska skaldekonstens fader och andra Stiernhielmstudier. (Skrifter utgivna av Vetenskaps-Societeten i Lund 69). Lund 1974, S.156).

19    Mohnike, S. 263.

20   Mohnike, S. 263-4.  

21 Mohnike, S. 254-5 sieht noch eine andere mögliche Interpretation: In den „niedergetretenen Wurzeln“ könnten Zeitgenossen auch verarmte Adlige erkennen. Nach dieser Lesart wäre das ständische Gefüge also nicht bedroht. Diese Alternativdeutung verstärkt den Eindruck der häufigen Zweideutigkeit in Hercules, doch in diesem Falle scheint mir, dass die andere Deutung, nämlich dass die Ständegliederung durchlässig ist, Vorrang hat. Sie wird sowohl durch den Text selbst als auch die historischen Gegebenheiten gestützt.

22 Olsson, S.30-65. Kurz zusammengefasst in: Olofsson, Rune Pär. Georg Stiernhielm – diktare, domare, duellant. [Hedemora und Möklinta]: Gidlunds Förlag 1998, S .91-3.

23   Mohnike, S. 240, 256ff.

24   Mohnike,  S.269.

25  Mohnike,  S. 256.

26  Haugen, Einar. Die skandinavischen Sprachen. Eine Einführung in ihre Geschichte. Aus dem Engl. übersetzt v. Magnús Pétursson. Hamburg: Buske 1984., S. 467 [Original: The Scandinavian Languages. London: Faber 1976.]
NACH OBEN

 

LITERATURVERZEICHNIS

1. PRIMÄRLITERATUR

Stiernhielm, Georg. Hercules. In: Nordström, Johan und Olsson, Bernt (Hrsg.). Samlade skrifter av Georg Stiernhielm. Första Delen: Poetiska Skrifter. (Svenska författere. Utgivna av Svenska Vitterhetssamfundet, Band 8). Lund 1973 ( Stockholm: Bonniers 1929).

Johannes von Tepl. Der Ackermann aus Böhmen. München: Goldmann 1972.

SEKUNDÄRLITERATUR

2.1. Nachschlagewerke

Haugen, Einar. Die skandinavischen Sprachen. Eine Einführung in ihre Geschichte. Aus dem Engl. übersetzt v. Magnús Pétursson. Hamburg: Buske 1984. [Original: The Scandinavian Languages, London: Faber 1976.]

Hellquist, Elof. Svensk etymologisk ordbok. Lund: Gleerup 1922.

http://runeberg.org/svetym/  (18.11.2007)

Julius Pokorny. Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, 2 Bde. 5. Aufl. 2005. Marburg: Francke 2005. 

http://www.indo-european.nl/cgi-bin/query.cgi?basename=\data\ie\pokorny&root=leiden. (18.11.2007)

Svenska akademiens ordbok [SAOB], Spalte A2402, Stichwort „ARTIG“, Bedeutung 2a.  http://g3.spraakdata.gu.se/saob/index.html. (18.11.2007)

2.2. Übrige Sekundärliteratur

Betz, Hans Dieter. Studien zur Bergpredigt. Tübingen: Mohr Siebeck 1985, S. 138.

Delblanc, Sven. Hercules magnanimus. Ett bidrag till tolkningen av Stiernhielms Hercules. Samlaren 82 (1961), S. 5-72.Englund, Peter. Det hotade huset. Adliga föreställningar om samhället under stormaktstiden. Stockholm: Atlantis 1989.

Hallberg, Peter. Diktens Bildspråk. Teori, Metodik, Historik. Göteborg: Esselte 1982. 

Mohnike, Thomas. Mehrstimmigkeit barocker Repräsentation. Der Paratext in den ausgaben von Georg Stiernhielms Hercules und sein Einfluss auf die Interpretation. In: Baumgartner, Walter (Hrsg.). Ostsee-Barock. Texte und Kultur. (Nordische Geschichte, Universität Greifswald, Bd.4). Berlin: LIT 2006, S. 243-5.

Olofsson, Rune Pär. Georg Stiernhielm – diktare, domare, duellant. [Hedemore und Möklinta]: Gidlunds Förlag 1998

Olsson, Bernt. Den svenska skaldekonstens fader och andra Stiernhielmsstudier. (Skrifter utgivna av Vetenskaps-Societeten i Lund 69). Lund [1974], S.30-65.

Schäfers, Michael. Prophetische Kraft der kirchlichen Soziallehre? Berlin usw.: LIT Verlag 1998, S. 405.

NACH OBEN