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DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIK
Freiburg - Reichengasse
Tymwald Hill auf der Insel Man
Biel - Brunngasse
MANX

KÖNNEN TOTE SPRACHEN AUFERSTEHEN?
von René Wyß

Die Titelfrage ist schon mal falsch gestellt. Sprachen sind keine Lebewesen und können deshalb auch nicht wie diese sterben. Eine Sprache ist zwar ein System mit einem Wortschatz und einer Struktur, also einer Grammatik mit Regeln für die Verwendung des Wortschatzes; eine Sprache ist aber weder ein Organismus noch eine Spezies. Sie kann deshalb nicht im selben Sinne sterben oder aussterben.
Eine tote oder ausgestorbene Sprache kann grundsätzlich wiederbelebt werden, unter der Voraussetzung, dass Struktur und Wortschatz hinreichend belegt sind; dazu braucht es ein recht umfangreiches Textmaterial, aus welchem wir erfahren, wie die wichtigsten Lebenssituationen in der Sprache bewältigt werden können und wie die Welt dargestellt, gedeutet und verstanden werden kann. Im Altertum tilgte Rom in dem Territorium, welches es erobert hatte, nicht nur bald einmal die traditionellen Sprachen, die schnell gegenüber dem Latein an Bedeutung verloren und aufgegeben wurden. Nein, es blieben auch kaum schriftliche Zeugnisse überliefert; selbst vom etruskischen Schrifttum sind aus den wenigen erhaltenen Texten knapp 600 Wörter bekannt, von denen nur rund 200 einigermaßen gedeutet sind. Es fehlen auch Paralleltexte in bekannten Sprachen, mit welchen etruskischer Wörter und Sätze entschlüsselt werden könnten. Deshalb macht die Forschung nur sehr langsame Fortschritte im Verständnis des Etruskischen; angesichts des spärlichen Textmaterials bleibt alles Stückwerk.
Ein bekanntes Beispiel für eine wiederbelebte Sprache ist Iwrith, das moderne Hebräisch, welches in Israel nach der Staatsgründung eingeführt wurde und heute von zehn Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen wird. Damit das möglich war, musste der Wortschatz der alten Sprache an das heutige Leben angepasst und erweitert werden.
In Nordamerika wechselten im 20. Jahrhundert viele Indianerstämme die Sprache und gingen zum Englischen über. Eltern gaben die Sprache nicht mehr an die Kinder weiter, und eine Generation später konnten ältere Menschen zwar ihre alten Stammessprachen noch sprechen, doch wurden diese nicht mehr als tägliche Umgangssprachen verwendet. Im günstigen Falle lehrten die letzten Muttersprachler einige ihrer Stammesangehörigen die angestammte Sprache als Zweitsprache. Doch einige dieser Sprachen wurden vor dem endgültigen Erlöschen von Stammesangehörigen wiederbelebt und in Kindergärten und Schulen gebracht. Da Stammessprachen keine oder wenig offizielle Geltung haben und außerhalb der Stämme nicht gesprochen werden, gelten sie weiter als kritisch gefährdet. Bei der Wiederbelebung der indigenen Sprachen Nordamerikas wird für den Wortschatz namentlich auf Bibelübersetzungen, missionarische Texte und Katechismen zurückgegriffen; auch alte Grammatiken sind hilfreich.
Ein Beispiel für diese Indianersprachen ist Delawarisch, welches auch über die Webseiten www.talk-lenape.org und delawaretribe.org/culture-and-language verbreitet wird.

Wiederbelebung von Sprachen in Westeuropa
Doch auch im Nordwesten Europas gibt es Sprachen, die ausgestorben und wiedererweckt worden sind. Auf den Britischen Inseln sind das Kornisch und Manx. Beides sind keltische Sprachen. In Cornwall im äußersten Südwesten Englands starb Kornisch als Muttersprache bereits um 1800 herum aus, bis ins 19. Jh. hinein gab es noch einige sog. Halbsprecher, welche die Sprache nur unvollkommen gelernt hatten. Die Wiederbelebung begann 1904 mit der Herausgabe eines kornischen Handbuches von Henry Jenners (Handbook oft he Cornish Language); heute gibt es gemäß Volkszählung von 2021 immerhin 557 Leute, die Kornisch als Zweitsprache sprechen. 

Manx
Manx ist die traditionelle Sprache auf der Insel Man, die in der Irischen See zwischen Irland und England liegt. Manx gehört zu den gälischen (oder goidelischen) Sprachen. Irisch (Gaeilge, Gaelainn) Schottisch-Gälisch (Gàidhlig) und Manx (Gaelg) gelten heute als separate Sprachen; sie sind gegenseitig ohne Vorbereitung nur bedingt verständlich. Das Gälisch Irlands und Schottlands haben beide eine Rechtschreibung, die auf dieselbe Tradition zurückgeht; das Irische wurde jedoch durch die Reform von 1947 in dem Sinne vereinfacht, dass viele nicht mehr ausgesprochene Konsonanten getilgt wurden. Der Preis dafür war, dass die Etymologie vieler Wörter nicht mehr durch die Schreibung sichtbar war. Die Rechtschreibung von Manx lehnt sich leider nicht ans System des irischen und schottischen Gälisch an, sondern vor allem ans Englische, in geringerem Maße auch ans Walisische. Die Schreibweise ist deshalb weder phonetisch noch sparsam; sie wirkt recht umständlich und verdeckt die enge Verwandtschaft von Manx mit den anderen goidelischen Sprachen. Manx fand auch Eingang in den Irischen Sprachatlas des damals in Belfast lehrenden Schweizer Keltologen Heinrich Wagner. (Linguistic Atlas and Survey of Irish Dialects. 4 Bde. Dublin 1958-69.)

Bunscoil Ghaelgach auf der Insel Man

Die manxsprachige Grundschule auf der Insel Man (Siehe S. 12ff.)

https://en.wikipedia.org/wiki/Bunscoill_Ghaelgagh#/media/File:Bunscoill_Ghaelgagh.
Licence: Creative Commons Attribution 2.0 Generic license; see https://en.wikipedia.
org/wiki/Creative_Commons_license

Die Insellage und die politische Sonderstellung trugen wohl wesentlich zur Erhaltung des Manx bei; erst gegen Ende des 18. Jhs. wurde Englisch als Schulsprache durchgesetzt. Gemäß dem bereits erwähnten Henry Jenner sprachen 1874 noch 30% der Bevölkerung Manx als Umgangssprache, einhundert Jahre später starb der letzte Muttersprachler, Ned Maddrell. Doch zur selben Zeit begannen Sprachenthusiasten mit ihren Bemühungen, Manx wiederzubeleben. Seit 2001 gibt es eine manxsprachige Grundschule, Bunscoill Ghaelgach, die heute von rund siebzig Kindern besucht wird.
Trotz diesen Anstrengungen klassierte die Unesco 2009 in ihrem Atlas der gefährdeten Sprachen der Welt (Atlas of the World's Languages in Danger) Manx als ausgestorben.
Das löste auf der Insel heftige Proteste aus. Manx sei gesund und munter, hieß es, es gebe Hunderte von Manx-Sprechern, welche in der Lage seien, die Sprache erfolgreich und produktiv zu verwenden. Die Schulkinder der erwähnten Bunscoill Ghaelgach nahmen an der Klassierung von Manx als ausgestorbene Sprache heftigen Anstoß. Um zu beweisen, dass die Sprache alles andere als tot sei, schrieben sie einen Brief an das Gremium der Vereinten Nationen – in Manx. Die Sprache habe schon irgendwie am Abgrund gestanden, aber an der Schule hätten sie es wieder zum Leben erweckt, sagte Julie Matthews, die damalige Schulleiterin.
Voraussetzung für die Wiederbelegung von Manx waren und sind die Anstrengungen von Organisationen und die Leistungen einzelner Forscher und Aktivisten. Yn Cheshaght Ghailckagh (Manx Language Society) wurde bereits 1899 gegründet. Von 1930 bis in die Siebzigerjahre machten Mitglieder bei den letzten Muttersprachlern Aufzeichnungen der gesprochenen Sprache. Einen Meilenstein setzte Douglas Fargher mit seinem Wörterbuch Fargher’s English-Manx Dictionary, Douglas 1979, einem Werk von fast 900 Seiten.
Die Eheleute Phil Gawne und Ann Kissack lernten Manx fließend sprechen und gehörten in den frühen Neunzigerjahren zu den ersten Eltern, die ihre Kinder mit Manx als Familiensprache aufzogen. Sie gründeten eine Spielgruppe und brachten schließlich das Erziehungsdepartement dazu, 2001 die manxsprachige Bunscoill Ghaelgach zu gründen. Seither haben Hunderte von Kindern diese Schule durchlaufen.
Der Zugang zu Manx steht auch Erwachsenen und Zugezogenen offen. Über die Webseiten learnmanx.com wird Lernmaterial online angeboten. Zuständig und ver­antwort­lich für die Unterstützung und Förderung der traditionellen Sprache ist der Beauftragte für Manx-Sprachentwicklung bei Culture Vannin, einer 1982 durch Beschluss des Inselparlaments gegründeten Stiftung. Um die Bewahrung und Pflege des kulturellen und natürlichen Erbes der Insel kümmert sich die Organisation Manx National Heritage oder Eireaght Ashoonagh Vannin /‘airəxt ə’​ʃu:n​əx ‘vanin/.

Die Sonderstellung der Insel Man und das nordische Erbe
Hier ist kurz auf die rechtliche Sonderstellung der Insel Man einzugehen. Diese ist - wie die Kanalinseln - nicht ein Teil des Vereinigten Königreichs, sondern eine selbstverwaltete Kronbesitzung (Crown Dependency), obwohl die Einwohner britische Pässe haben. Diese Autonomie macht Man nicht nur zu einem Steuerparadies, sondern erleichtert auch die Förderung der angestammten Sprache.
Das Parlament heißt Tynvald; der Name geht auf den alten Landsgemeindeplatz Tynvald Hill zurück, wo sich die Manxer schon vor über tausend Jahren jährlich versammelten, um Recht zu sprechen und Beschlüsse zu fassen, und wo auch heute noch im Sommer die Parlamentsbeschlüsse verkündet und rechtsverbindlich festgestellt, also erwahrt werden. Damals war die politische Elite nicht gälisch, sondern skandinavisch; der Name Tynvald geht auf altnordisch Þingvöllr ‚Versammlungsfeld‘ zurück, gleich wie Þingvellir auf Island, der Ort, wo sich früher die Isländer im Sommer zu ihrer eigenen Landsgemeinde trafen, dem Alþingi. (Auch auf Island wurde der Name auf das moderne Parlament in Reykjavík übertragen.)

Tynwald Hill auf der Insel Man

Tynwald Hill, der Landsgemeindeplatz auf der Insel Man


Wachsende Rückbesinnung auf Identität und Autonomie
Das Überleben von Manx im 21. Jahrhundert ist ein Beweis für das Selbstverständnis der Insel als ein eigenständiger Ort mit eigener Identität – und politischer Autonomie. Die erwähnte Bunscoill Ghaelgach sichert nicht nur das Weiterleben der Sprache Manx, sondern steht nicht zufällig kaum hundert Meter von Tynwald Hill, dem politischen Kraftort der Insel.
Obwohl die Sprache erst von gut 2‘000 der 56‘000 Einwohner der Insel gesprochen wird, sind ihre Spuren praktisch überall sichtbar, auf Grabsteinen mit Manx-Inschriften, in Ortsnamen und auf Verkehrsschildern. Viele Erwachsene nehmen Manx-Unterricht, und Bands singen in Wirtschaften auf Manx. Jedes Jahr findet im November findet das Cooish statt, ein fünftägiges Festival der Manx-Sprache und -Kultur. Gelegentlich ist die Sprache nun auch an Läden und Gaststätten sichtbar – ein Tearoom in Peele z. B. ist sowohl auf Englisch als auch auf Manx angeschrieben: tea room / shamyr hey.

https://www.irishtimes.com/culture/2022/12/06/how-a-nearby-islands-almost-extinct-gaelic-language-has-been-brought-back-to-life/
Broderick, George. Language Death in the Isle of Man. (Linguistische Arbeiten 395)Tübingen (Niemeyer) 1999.

 

Tynwald Hill und manxsprachige („gälische“) Grundschule Bunscoill Gaelgagh auf der Insel Man

Tynwald Hill und manxsprachige („gälische“) Grundschule Bunscoill Ghaelgagh auf der Insel Man
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