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DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIK
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Die neue Seuche trifft auch die Sprache

Corona oder eine Sprache wird beschädigt
von Mario Andreotti

Das Corona-Virus hat nicht nur viele Menschen infiziert, sondern auch die Sprache, unser Reden. Da gibt es allem voran jene Wörter, die aus dem Englischen zu uns oder, besser gesagt, über uns gekommen sind. Oder die wenigstens so tun, als würden sie von dort stammen. «home office» ist ein solches, geradezu inflationär gebrauchtes Wort. Dabei meint dieses Wort in England nicht etwa das Büro zu Hause, das Arbeiten von daheim, sondern ist die offizielle Bezeichnung für das Innenministerium. Wenn schon ein englisches Wort verwendet werden soll, so müsste es zumindest «homework» lauten - ein Wort, das nichts weiter als «Heimarbeit» meint und das in der deutschen Sprache für eine Lohnarbeit, die zu Hause verrichtet wird, längst etabliert ist. Wozu also der englische Ausdruck «home office», der das Gemeinte nicht einmal trifft? Ähnlich ergeht es dem völlig unnützen Ausdruck «home schooling», für den wir das deutsche Wort «Heimunterricht» haben, das erst noch jedermann versteht.
Nicht viel anders steht es um den englischen Ausdruck «social distancing», den viele unter uns nicht einmal richtig aussprechen können. Der Ausdruck müsste deutsch mit «sozialer Distanzierung» übersetzt werden, was aber im Zusammenhang mit Corona nichts oder nur ganz am Rande etwas zu tun hat. Gemeint ist im Deutschen nur eine räumliche Distanz der Menschen, ein Abstandhalten, was in Wirklichkeit dem englischen Ausdruck «physical distancing» entspräche. Die vermeintlich englischen Ausdrücke, derer wir uns mit Vorliebe bedienen, erweisen sich damit nur allzu oft als reinstes «Scheinenglisch», so wie einst aus dem Mobiltelefon das Handy wurde. Warum dann nicht einfach den deutschen Ausdruck «Abstand halten» gebrauchen, der genau sagt, was gemeint ist?
Wer kann schon den genauen Unterschied zwischen «lockdown» und «shutdown» erklären?
«Lockdown» bedeutet so viel wie «Sperrung», «Shutdown» bezeichnet ein «Herunterfahren», ein «Stilllegen», wie es bei der amerikanischen Bundesverwaltung der Fall ist, wenn wieder einmal kein neues Haushaltsgesetz vorliegt, weil sich Senat, Repräsentantenhaus und Präsident nicht rechtzeitig darüber einigen konnten. Warum dann nicht gleich die gängigen deutschen Wörter «Kontaktverbot» und «Stilllegen» verwenden? Aber Englisch wirkt halt so modern, so trendy, so snappy, wie es Deutsch offenbar nicht kann, auch wenn viele von uns kaum wissen, was die englischen Wörter, wie etwa das vom Bundesrat bis zum Überfluss verwendete «Contact-Tracing», deutsch genau meinen. Die Romands machen es da besser: Statt von «lockdown» sprechen sie von «confinement» und von «télétravail» anstelle von «home office». Ausdrücke, die für alle Französischsprechenden sofort verständlich sind.
Zur Corona-Welt zählen auch deutsche Wörter, die wir zwar dauernd benutzen, die aber eine neue Bedeutung erhalten haben. Eines dieser Wörter ist «Normalität». In Corona-Zeiten haben wir ja gerade keine Normalität, weshalb das Wort zur besseren Unterscheidung den Zusatz «neu» erhalten hat. «Vorsichtig und voller Freude in die neue Normalität» konnte man in den letzten Tagen in einigen Zeitungen als Titel lesen. Doch aus sprachlogischer Sicht ist die Sache klar: Entweder ist ein Zustand normal oder er ist es nicht. Etwas dazwischen, eine «neue Normalität», gibt es nicht.
Doch zurück zum penetranten Hang zu möglichst vielen Anglizismen, so dass aus dem Deutschen ein «Denglisch» wird. Dabei ist der historisch gewachsene Wortschatz der deutschen Sprache mit über 500'000 Wörtern breit genug, um selbst für heikle Situationen wie der Corona-Krise passende Wörter zu finden, auch wenn hier nicht einem Sprachpurismus, der jedes Fremdwort verbieten will, das Wort geredet werden soll. Die Politiker, aber auch die Medien stehen mit Blick auf die Verunstaltung unserer deutschen Sprache durch unnötige Anglizismen in der Verantwortung - einer Verantwortung, die sie noch vermehrt wahrnehmen müssten. Vielleicht würden wir Deutschsprechenden einen «lockdown» für englische Ausdrücke brauchen.

Mario Andreotti ist Dozent für Neuere deutsche Literatur und Buchautor (Eine Kultur schafft sich ab.) S. Besprechung auf https://bernerland.ch/sprachkreis/sprache-und-gesellschaft/eine-kultur-schafft-sich-ab.html).

 

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