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BUCHBESPRECHUNG

Mario Andreotti:  Die Struktur der modernen Literatur
6., stark erweiterte und aktualisierte Auflage
von Felix Sachs

Die Struktur der modernen Literatur Rekordverdächtige Neuauflage eines Klassikers
ODER
Eine zerrissene Welt im Spiegel moderner Texte

Welche Einsichten in moderne Texte aller Art wir durch das Buch «Die Struktur der modernen Literatur» von Professor Dr. Mario Andreotti gewinnen können, lässt sich schön zeigen anhand eines Romans von Eveline Hasler: «Der Zeitreisende. Die Visionen des Henry Dunant» (dtv München, 32005).
Dieser Roman beginnt mit dem letzten Abschnitt im Leben Henry Dunants, Sohn Genfs, mit seinem Aufenthalt in Heiden. Seine Ankunft in diesem Bauerndorf, wo ihn niemand kennt, markiert den tiefsten Punkt im Leben des Rotkreuzgründers. Die letzten Jahre Dunants bilden den Rahmen des Romans, von dem aus in zahlreichen Rückblenden alle Phasen in seinem Leben von seiner Kindheit an geschildert werden.
Als Textbeispiel zitiere ich aus dem Buchanfang eine Stelle im fiktiven Stil, die wir so in keinem traditionellen Roman finden könnten:
Mit einem Seufzer kehrt Dunant auf die Steilklippe zurück, sein geliebtes Genf am Ende des Bodensees blitzt noch einmal auf im Abendschein.
Ein Engel mit flammendem Schwert steht vor der Stadt. Der Zutritt ist ihm, dem verlorenen Sohn, verwehrt.
Das Gesicht des Engels nimmt Calvins Züge an, blutleer, hohlwangig. Der düstere Blick trifft Henry: Unwürdiger Sohn. Du hast Blut vergossen, das weisse Blut von Genf, Geld, so viel Geld, Hunderttausende, eine Million…
Der Zornengel. Seine Züge verwandeln sich noch einmal.
Der Bart jetzt kürzer, struppiger.
Der Blick wird jetzt unsicher, verkriecht sich unter trägen Lidern.
Die Nase trist, als hänge sie über dem Geschäftsbuch in einem Genfer Kontor. Tief eingegrabene, kleinliche Falten zu beiden Seiten des Mundes.
Ein Buchhaltergesicht. Dunant schaudert.
Monsieur M. Der Blick des Widersachers.
Der Julitag war heiss gewesen. Die Lehrersfrau stand am Fenster, sie fühlte sich ausgelaugt von den vielen kleinen Dingen, die der Tag gebracht hatte. Ihr Mann blieb heute länger aus als sonst.
Dieser Text ist voll von Merkmalen moderner Texte. In der neuen Auflage von Andreotti ist kein Textbeispiel von Eveline Hasler enthalten. Trotzdem konnte ich als Nichtgermanist meine Erkenntnisse zu diesem Roman leicht aus verschiedenen einschlägigen Kapiteln des Buches gewinnen: das zeigt dessen grosse Nützlichkeit als Praxishandbuch.
Zunächst finden wir mehrere Zeitsprünge, eines der Merkmale in Textcollagen, die solche «Montageromane» auszeichnen: Nach einem träumerisch ausschweifenden Blick von einer Steilklippe in Heiden über den Bodensee – in der fiktiven Gegenwart erzählt – versetzen ihn viele Einzelheiten am andern Seeufer in die Vergangenheit, in seine Heimat am Genfersee; mit einem Satz folgt die kurze Rückkehr zur Gegenwart an seinen Aussichtspunkt über der Steilklippe in Heiden; das Aufblitzen Genfs im Abendschein verwandelt sich in den Engel mit dem flammenden Schwert, zurück in die Vergangenheit zu den Gesichtern Calvins und des «Monsieur M.»,  seines grössten Konkurrenten und hinterlistigen Widersachers, der die Verbannung des Rotkreuzgründers weg von Genf orchestriert hat; unvermittelt wieder die Rückkehr zur Gegenwart, zur Frau des befreundeten Dorflehrers in Heiden.
Montageartig ist auch der Wechsel zwischen verschiedenen Stilformen: Die geschilderten Geschichtszüge Calvins sind eine einzige Satire auf den Calvinismus; eine zweite, ähnliche Satire folgt mit dem Gesicht des «Monsieur M.», des Widersachers Dunants als gefühlloser Buchhalter; Wechsel zum sachlichen Reportage-Stil bei der Frau des Dorflehrers mit gleichzeitigem Tempuswechsel vom epischen Präsens zum Präteritum.
Die überzeichnete Schilderung der Gesichtszüge Calvins zeigen gleichzeitig das gespannte bis ablehnende Verhältnis Dunants zur institutionellen Religion – ebenfalls ein häufiges Motiv moderner Texte. Auch der «Engel mit dem flammenden Schwert», der die Pforte zum Paradies nach dem Sündenfall bewacht (Genesis 3, 24), ist ein Zitat im Stil der «Intertextualität», des Anspielens und Zitierens anderer Texte, ein häufiges Element moderner Prosa.
Was solche Bruchstellen in modernen Texten für unsere Welt bedeuten, wird in Andreottis Buch sehr anschaulich und ausführlich erschlossen. Idealerweise haben Sie einen modernen Text, sei es ein Roman oder ein Gedicht, schon gelesen und sich mit ihm auseinandergesetzt und dabei Ihre eigenen Gedanken gemacht. Dann ist sicher Ihr Interesse für ein besseres Verständnis geweckt und Sie greifen gerne auf ein ausführliches und doch preiswertes Buch eines profunden Kenners zu, der die ganze Breite der modernen und auch der traditionellen Literatur kundig beleuchtet und vergleicht. Um beim Roman von  Eveline Hasler zu bleiben: Im Namenregister finden Sie unter Hasler, E. einen Hinweis auf die Seite 64 im Kapitel über die deutsche Literatur von 1900 bis zur Gegenwart, wo die Autorin literaturgeschichtlich eingeordnet wird. Sie gehört zu den Autoren der modernen Gattung der Frauenliteratur mit den prägenden Vorbildern Virginia Woolf und Simone de Beauvoir. Unter dem gleichen Stichwort führt Sie das umfangreiche Glossar (45 Seiten!) auf weitere Seitenverweise.
Dass Eveline Hasler als prägnante Vertreterin für die Literaturgattung Frauenliteratur auch dem Mann Henry Dunant ein Werk widmet, hat einen triftigen Grund: Er trat genau so konsequent wie für die Abschaffung des Krieges auch für die Gleichberechtigung der Frauen ein. Er sah klar den Zusammenhang zwischen Unterdrückung der Frauenrechte und Krieg: Nur mit den Frauen als gleichberechtigten Partnern zusammen kann die Abschaffung des Krieges gelingen. Folgerichtig pflegte er einen intensiven Briefkontakt mit Bertha von Suttner («Die Waffen nieder!») und mit vielen andern Frauen. Wie Dunant hat auch von Suttner den Friedensnobelpreis erhalten.
Das 4. Kapitel in Andreottis Buch, «Die geistigen Kräfte unserer Epoche: ihre Auswirkungen auf die moderne Literatur», ist weit über die breite Thematik des Buches hinaus von grossem allgemeinbildendem Wert. Es beweist seine profunde Kenntnis der Umwälzungen in den modernen Natur- und Geisteswissenschaften, der Technik und der Wirtschaft, der Philosophie und der Kunst.
Normalerweise rechtfertigte eine Neuauflage eines Buches kaum eine eigene Rezension. Dieses Standardwerk über die moderne Literatur jedoch erscheint nicht nur mit wesentlichen Erweiterungen, in einem grösseren Format und neu in bunter Aufmachung. Es markiert vor allem ein einzigartiges Jubiläum: Seit dem ersten Erscheinen im Jahre 1983 sind knapp vier Jahrzehnte vergangen. Die 6. Auflage dürfte darum eine rekordverdächtige Ausnahmeerscheinung darstellen: Hier hat es ein einzelner Autor geschafft, ein von Beginn weg gelungenes Werk über einen so langen Zeitraum von Auflage zu Auflage stetig zu erweitern und zu aktualisieren.
Der Verfasser, der Germanist Prof. Dr. Mario Andreotti, konnte schon mit der 1. Auflage mit der Übernahme eines Paradigmenwechsels in der Textdeutung, der in den frühen Achtzigerjahren vor allem die französische Literaturwissenschaft revolutionierte, im deutschen Sprachraum eine Marktlücke füllen und gleich einen grossen Erfolg verbuchen (persönliche Mitteilung M.A.). Seine Fähigkeit, die auch für Gebildete nur schwer verständliche Terminologie in der modernen Textinterpretation in eine leicht lesbare Sprache zu übersetzen, öffnete ihm den Zugang zu Lesern bis weit ausserhalb der Gymnasien und Literaturzirkel. Er schafft es, die oft dunkle, schwerzugängliche Sprache moderner Texte auch literarisch weniger Kundigen zu erschliessen, ohne die Aura des Zauberhaften, auch des Leidens vieler Autoren an der Gebrochenheit der Welt aufzulösen.

Mario Andreotti Mario Andreotti, Die Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens: Erzählprosa und Lyrik, 6., stark erweiterte und aktualisierte Auflage, Haupt Verlag 2022, UTB Bandnr. 1127. ISBN 978-3-8252-5644-9.
405 S., CHF 29.90 (UVP)/EUR 23.00.

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