E. Y. Meyers "Apotheose": Eine
verspŠtete WŸrdigung
Peter
Glatthard-Weber (pgw), Januar 2016
E. Y. Meyer
ist fŸr den
Sprachkreis Deutsch kein
Unbekann- ter. Schon mehr
als ein halbes
Jahr ist seit
der Vernissage seines letzten Romans
verstrichen. GlŸcklicherweise ist es aber
nie zu frŸh
oder zu spŠt,
diesen Roman zu lesen: Seine
optimale Genussreife ist ungefŠhrdet, ob Sie ihn bereits
heute oder erst Ÿbermorgen lesen.
Geniessen und urteilen Sie selbst!
Inhalt des Romans
Ich Ÿbernehme zunŠchst die treffende
Schilderung aus den Internet-Seiten des Autors: ãApotheoseÒ heisst ãVer- gšttlichungÒ. Ein Mensch oder eine Sache wird zu einem
Gott erhoben. Die
Frage, die sich
heute stellt, ist,
ob jeder Mensch sich zu einem
Gott erheben will, ob die Mensch-heit sich als eine
gottŠhnliche Spezies sehen
will. Oder ob es
nicht darum gehen
sollte, dass die Menschen menschlicher werden, als sie es heute sind oder sein
kšnnen. Auch die
Schweiz befindet sich
in einem rasanten
Wandel zu et- was
Neuem. Die Frage,
um die es in dem Roman geht,
ist, ob das reich
gewordene Land um die Jahrtausendwende seine Apotheose
erreicht hat. Einen gšttlichen Status? Gespiegelt und reflektiert wird
diese Zeit vor und nach der Jahrtausendwende in der Geschichte
eines Schweizer MŠnnerclubs, der sichãClub
Freitag der DreizehnteÒ nennt.
Dreizehn MŠnner
treffen sich an jedem Freitag, der ein Dreizehnter ist. ZunŠchst an einem immer
wieder anderen Ort, und schliesslich einmal
im Jahr immer
in dem zum Hotel umgewandelten Ritterhaus ãChasa de CapolÒ jenseits des Ofenpasses in Santa Maria im schweizerischen Val MŸstair. FŸr jedes Treffen im MŸnstertal schreibt
E. Y. eigens
eine besondere Geschichte, die er am Abend seinen
Club- kameraden vorliest.
ãApotheoseÒ und der RomanãWandlungÒ, der 2012 erschie- nen ist, bilden
E. Y. Meyers ãDiptychon zur Jahrtausend- wendeÒ.
ãWandlungÒ umfasst
die Zeit vom Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Sieg
des Kapitalismus Ÿber
den Kommu- nismus, bis zur Jahrtausendwende.
ãApotheoseÒ die Zeit von der Jahrtausendwende bis zur er-sten grossen Krise
des siegreichen Kapitalismus, der Fi- nanzkrise
von 2008.
Mit ãWandlungÒ ist letztlich die sich im Gang befindende Verwandlung der natŸrlichen Umwelt auf dem Planeten
Erde in eine reine Kunstwelt gemeint, in eine
Welt, die nur noch aus kŸnstlichen Gebilden
besteht. Und Apotheose bedeutet bei E. Y. Meyer
nicht einseitige Verherrlichung und VerklŠrung. Das Apotheose-PhŠnomen ist bei ihm im Gegenteil mehrschichtig und mit
ironischen Untertšnen durchsetzt.
Premire vom 28.
Mai 2015 im Alpinen
Museum Bern Als Veranstaltungsort hat E. Y. den Hodlersaal im Alpinen
Museum ausgewŠhlt. Sein Redner- bzw. Lesepult befand sich genau
in der Mitte zwischen den dramatischen Mo- numentalbildern ãAufstiegÒ (links) und ãAbsturzÒ (rechts), die Hodler seinerzeit fŸr die Weltausstellung in Antwerpen 1894 gemalt
hat. Zwischen Hodlers
Bildern wurde dann einãPassfotoÒ von E. Y. eingeblendet, der sinnend auf dem hšchsten Punkt des Ofenpasses steht. Den Rahmen
der Lesung bildeten eine EinfŸhrung durch den Leiter des StŠmpfli Verlags und eine wunderbar schrŠge
musikalische Einlage mit
der Jodlerin Christine Lauterburg.
Befindet sich die Schweiz
weiterhin im aufhaltsamen Auf- stieg? (Die Leser mšgen mir den diesen
radebrechtschen Ausrutscher verzeihen.) Oder befindet sich die freie Schweiz im Absturz, quasi
im freien Fall? Oder
will sie ein-
fach weiterhin dazwischen auf der
(Pass-)Hšhe bleiben? Mit einigen
Gedanken zur vielschichtigen Bedeutung des BegriffsãApotheoseÒ leitete
E.Y. Meyer gleich zu seiner Lesung
Ÿber. DafŸr hatte er eine abgeschlossene Geschichte gewŠhlt, nŠmlichãLOS GIGANTOS
oder Wie der Neuenburgersee zur Bouillabaisse und
ausgegessen wurdeÒ.
Bei die- ser
Parodie der Expo 0 handelt sich um eine wahrlich phantastische und
zugleich Ÿberrealistische Schilderung ˆ la Rabelais, Jonathan Swift und DŸrrenmatt.
Besonders spannend scheint
mir, wie E. Y. Meyer auf diese Geschichte kam. Das schildert er den Lesern
einige Seiten vorher ausfŸhrlich - lesen Sie gleich selber! Sie erhalten so Einblick
in seinen hochprŠzisen und minuzišs abgewogen
Schreibstil: E. Y. ist wirklich Lesegenuss pur!
ãFŸr das
erste Treffen des Clubs in der Chasa
de Capol hatte ich den 13. Juli ausgewŠhlt. Und was fŸr eine Geschichte
sollte ich nun fŸr diesen
Tag schreiben?
Ich musste an das Grossereignis denken, das der Schweiz im nŠchsten Jahr, im Jahr 2002,
bevorstand.
Ein landesweites, das ganze Land betreffendes
Ereignis, das es in der Schweiz nur alle fŸnfundzwanzig Jahre gab. Eine Selbstbefragung und die Selbstdarstellung eines Lan- des, das zu den reichsten und zivilisiertesten LŠndern
der Welt gehšrte.
Eine SelbstprŠsentation, die das Land
von seiner besten Seite zeigen sollte.
Seine Apotheose sozusagen. Seine
Verherrlichung.
Seine
VerklŠrung.
Vielleicht sogar seine
Vergšttlichung.
Die
"Schweizerische Landesausstellung", die diesmal EXPO.02 heissen
wŸrde.
Es wŸrde die sechste sein.
Die zweite nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die erste hatte
am Ufer des Genfersees in Lausanne statt- gefunden und war einfach
EXPO genannt worden.Ò
(É)
Und bestehen
wŸrde sie aus fŸnf sogenannten Arteplages.
Ein Wort, das eigens fŸr die
EXPO.02 erfunden worden
war. Aus dem franzšsischen Wšrtern
art fŸr Kunst
und plage fŸr Strand.
(É)
Kosten
sollte das Ganze anderthalb Milliarden Schweizer Franken.
Wobei diese
Kosten nicht nur den Aufbau
decken sollten, sondern auch
den Abbau, denn
nach dem Ende der Aus- stellung
sollte alles, was aufgebaut worden war, wieder verschwinden.
Es war also vorauszusehen, dass
diese Ausstellung so etwas wie eine Fata Morgana
werden wŸrde.
Eine Illusion, die wŠhrend
kurzer Zeit RealitŠt geworden war sein wŸrde,
bevor sie sich
wieder in Nichts
auflšste.
Kaum besser
illustrierbar als mit einer
kŸnstlichen Wolke.
Dies bedenkend, erinnerte ich mich an eine launige Bemer- kung,
die Hofi* einst
gemacht hatte,
als wir zusammen mit un- seren Zahnarztfreunden in deren Ferienhaus am Neuenbur-
gersee auf der Hochterrasse des Hauses gesessen
und Weisswein getrunken hatten. Ein typischer Hofi-Einfall, eine groteske Idee, die zwar wohl
der Wirkung des Weissweins zu
geschrieben werden konnte,
die man aber trotzdem
als "Bieridee" hŠtte bezeichnen kšnnen.
Er meinte
nŠmlich, dass man den Neuenburgersee mit seinem Fischreichtum,
auch wenn das alles SŸsswasserfische seien,
doch eigentlich in eine perfekte Bouillabaisse wŸrde verwandeln kšnnen. Eine Bouillabaisse ˆ la Suisse
sozusagen.Ò
* Arnulf Hofmeister, Zeichner und Maler, Mitglied des Clubs Freitag der Dreizehnte
E. Y. Meyers Sprache
zeichnet sich vor allem
durch ihre unmit- telbare Anschaulichkeit aus. Auch die kompliziertesten Ge- dankengŠnge und †berlegungen sind fŸr den Leser nachvollziehbar,
weil sie stets direkt mit der Beschreibung konkreter
Orte oder Ereignisse verknŸpft
werden. Dies wird
aus dem letztes Zitat deutlich, das sicher nicht
nur das Berner
Publikum ansprechen bzw. diesem aus
der Seele sprechen dŸrfte (aus der GeschichteãBahnhšfeÒ, nach Kap. 7):
ãDen Totalabbruch des Bahnhofs,
um Platz fŸr einen funktionalistischen Neubau im Stil der internationalen Schuhschach- telarchitektur zu schaffen,
empfand ich als Verbrechen. (É) Am schmerzhaftesten fŸr mich war
der Verlust des
Saals mit den Wandmalereien, der, wenn er auch in keiner
Weise mit der Pracht des
vielleicht schšnsten Bahnhofrestaurants der Welt, dem Belle-ƒpoque-Relikt Le Train Bleu
im Gare de Lyon in Paris, hŠtte
vergliche werden kšnnen,
das Herz und die Seele
des Bahnhofs gewesen
war.
Der neue
Bahnhof hatte kein
Herz und keine
Seele mehr.
Der alte Bahnhof
hatte Ÿber sich selbst hinaus
in die Ver- gangenheit gewiesen, in eine Zeit,
die Šlter als er selber war. Der neue Bahnhof tat das nicht
mehr. Er verwies nur noch auf
sich selbst. Er tat dies
so, als ob die tabula
rasa mšglich wŠre. Der vollumfŠngliche Neuanfang. Der Neubeginn aus dem Nichts.
In Biel existiert das alt gewordene Bahnhofsbuffett noch. Und es gibt den Jugendstilwartesaal mit den von Philippe Robert auf die hohen WŠnde gemalten
Zyklen Der Lebens
lauf, Der Stundentanz, Die Jahreszeiten.
Der alte
Bieler Bahnhof ist auf
eine gršssere Vergangenheit gebaut. Der
neue Berner Bahnhof
auf nichts.Ò
Ausblick
auf das viersprachige Lesebuch CH4
E. Y. Meyer soll mit folgenden BeitrŠgen in CH4 vertreten sein:
¥
Mit
der GeschichteãLOS GIGANTOS oder Wie der Neuen-
burgersee zur Bouillabaisse
und ausgegessen wurdeÒ (aus "Apotheose").
¥
Mit einen Auszug ausãGotthelfs RittÒ (in ErgŠnzung
zu Roman-AuszŸgen von J. Gotthelf).
¥
Allenfalls auch mit einen
Auszug aus dem TheaterstŸck
ãVerDingtÒ (UrauffŸhrung 2007 auf der
Moosegg) in ErgŠnzung zu BeitrŠgen von C. A. Loosli (zum
Thema Verdingkinder und Jugendstrafvollzug).