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DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIK
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Grammatik und Stilistik

Jetzt kommt Bewegung in die SCHWEIZ: Heil dir, Movetia!

von Peter Glatthard

Anfang November 2017 haben Bund und Kantone eine gemeinsame Strategie genehmigt. Wir lassen hier die offizielle Mitteilung folgen. Am Anfang steht das Ziel:
Die Strategie soll dazu beitragen, dass Austausch und Mobilität [zwischen den Sprachgruppen] selbstverständliche Teile von Bildungs- und Arbeitsbiographien sowie von ausserschulischen Aktivitäten werden. Ziel ist eine qualitative und quantitative Stärkung von Austausch und Mobilität.

Bund und Kantone sprechen sich dafür aus, dass junge Menschen im Verlauf ihrer Ausbildung oder im Übergang ins Arbeitsleben vermehrt an Austausch- und Mobilität­saktivitäten teilnehmen sollen. Sie verbessern so ihre Sprachkenntnisse, ihre sozialen und fachlichen Kompetenzen und damit auch ihre Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Sie lernen zudem die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Schweiz und anderer Länder kennen. (…)
Die Strategie ist von Bund und Kantonen gemeinsam entwickelt und im Oktober 2017 durch die zuständigen Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) und des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK verabschiedet worden. Sie fügt sich ein in die übergeordneten Ziele der Bildungs-, Kultur- und Jugendpolitik des Bundes und der Kantone.
Mit der Strategie wird eine verstärkte Anerkennung und Förderung von Austausch und Mobilität angestrebt, mit dem Ziel, höhere Beteiligungszahlen zu erreichen. Dazu sollen die bestehenden Angebote ausgebaut und weiterentwickelt werden, und es soll ein einfacher Zugang zu Information und Angeboten gewährleistet sein. Schliesslich schafft die Strategie die Voraussetzung für eine effektive Kooperation und Koordination zwischen Bund und Kantonen sowie den weiteren Akteuren im Bereich von Austausch und Mobilität.
Die Strategie Austausch und Mobilität ist auf eine lange Sicht angelegt. Bund und Kantone setzen sich für eine schrittweise Umsetzung der Strategie ein. Auf operativer Ebene liegt die Verantwortung weitgehend bei der Agentur Movetia, die von Bund und Kantonen für die Förderung von Austausch und Mobilität gegründet wurde.
Projekt mehrsprachiges Lesebuch (CH4)
In diese soeben beschlossene nationale Langfriststrategie zur sprachlichen Mobilität passt unser Projekt hervorragend hinein. Mit den kompakten literarischen Texten aus allen vier Sprachregionen wird eine Lücke geschlossen. Viele beklagen den ständig bröckelnden nationalen Zusammenhalt. Wir reden zwar stolz von der viersprachigen Schweiz, kennen sie aber viel zu wenig. Bis heute waren die vier Literaturen der Schweiz in keinem Lehrwerk greifbar. Deshalb will unser Projekt CH4 vor allem die Oberstufenschüler anregen, ihre Nase tiefer in die Werke der bis heute unbekannten Schweizer Autorinnen und Autoren aus den anderen Sprachregionen zu stecken.
Die Übersetzungen neben den Originaltexten regen zu Entdeckungsreisen an und zeigen, wie jede unserer Landessprachen spannend und etwas Besonderes ist. So macht es wirklich Freude, unsere Nachbarn näher kennenzulernen!
Projektstand und Textauswahl CH4
Die Hauptarbeit am Lesebuch besteht darin, attraktive Texte auszuwählen, welche die Jugendlichen direkt ansprechen. Um in der Schule Fuss zu fassen, soll parallel zum Textbuch ein Leitfaden für Lehrpersonen erstellt werden, der die Verbindungen zu möglichen Lernzielen aufzeigt und praktische Hinweise für den Unterricht gibt. Zu jedem Text werden Fragen gestellt, die zum besseren Verstehen anleiten; weiter werden auch konkrete Arbeitsaufträge formuliert.
Beim hep verlag ist unser Projekt in guten Händen. Frau Fiona Hasler, Verlagsmitar­beiterin, und Herr Enrique Gerber, pädagogischer Fachmann, haben eine Liste der Schulfächer und Lernziele erstellt, die mit CH4 abgedeckt werden. Dazu ein paar konkrete Beispiele unter vielen (Ziele gemäss Lehrplan 21):
Räume, Zeiten, Gesellschaften (RZG):
RZG 2.1 b)              Die Schülerinnen und Schüler können aktuelle Bevölkerungsbewegungen erkennen, diese räumlich und zeitlich strukturieren sowie Gründe für Migration erklären.
RZG 2.1 c)              Die Schülerinnen und Schüler können diskutieren, welche Auswirkun­gen Migration auf die betroffenen Personen und die Aufnahmegesell­schaft hat.
RZG 5.1 c)              Die Schülerinnen und Schüler können zu einem wichtigen Ereignis der Schweizer Geschichte im 20. Jahrhundert Ursachen, Verlauf und Folgen aufzeigen.
Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG):
ERG 1.1 a)              Die Schülerinnen und Schüler können in Erzählungen und Berichten prägende Lebenserfahrungen entdecken und interpretieren (z. B. Glück, Erfolg, Scheitern, Beziehung, Selbstbestimmung).
ERG 2.1 c)              Die Schülerinnen und Schüler können an exemplarischen Beispielen nachvollziehen, wie sich Werte und Normen in ihrer Umgebung oder in der Gesellschaft wandeln.
Deutsch, Literatur im Fokus:
D.6.A.2   Die Schülerinnen und Schüler können über literarische Texte und die Art, wie sie die Texte lesen, ein literarisches Gespräch führen. Sie reflektieren dabei, wie sie die Texte verstehen und die Texte auf sie wirken.
D.6.B.1    Die Schülerinnen und Schüler kennen einzelne Autorinnen und Autoren der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur und können Texte aus verschiede­nen Kulturen lesen, hören, sehen und deren Besonderheiten erkennen und wertschätzen.
CH4 konkret - ein Lesebeispiel
Wie wäre es mit einem Dessert? Dazu schlage ich Ihnen ein Gedicht von Michel Simonet vor. Dieser ist als Strassenwischer ständig mit einer roten Rose an seinem Besenwagen in der Stadt Freiburg unterwegs. Dass er auch ein feinsinniger Poet und Schriftsteller ist, zeigt seine eigenwillige Nachbearbeitung des folgenden Sonetts eines Dichters aus dem 16. Jahrhundert:

Heureux qui, comme Ulysse

Heureux qui, comme Ulysse, a fait un beau voyage,
Ou comme cestuy-là qui conquit la toison,
Et puis est retourné, plein d'usage et raison,
Vivre entre ses parents le reste de son âge!

Quand reverrai-je, hélas, de mon petit village
Fumer la cheminée, et en quelle saison
Reverrai-je le clos de ma pauvre maison,
Qui m'est une province, et beaucoup davantage?

Plus me plaît le séjour qu'ont bâti mes aïeux,
Que des palais Romains le front audacieux,
Plus que le marbre dur me plaît l'ardoise fine:

Plus mon Loire gaulois, que le Tibre latin,
Plus mon petit Liré, que le mont Palatin,
Et plus que l'air marin la doulceur angevine.

Joachim du Bellay (1522-1560), Sonett 31.

Hier sind die beiden ersten Strophen in deutscher Übersetzung:

Glücklich, wer wie Odysseus eine grosse Reise gemacht hat;
oder wie der, der das Goldene Vlies* erobert hat  –
und der dann, voll der Erfahrung und des Wissens, heimgekehrt ist,
um den Rest seines Lebens mit seiner Sippe zu verbringen!

Wann werde ich endlich wieder mal den Schornstein
meines kleines Dorfes rauchen sehn?
Und zu welcher Jahreszeit werde ich die Mauern meiner kleinen Hütte wiedersehen,
die mir so viel wie ein Königreich** – und noch viel, viel mehr – bedeutet?!

* Jason und die Argonauten
** wörtlich "eine Provinz"
Wie hat jetzt Michel Simonet dieses Sonett überarbeitet? Lesen Sie selbst auf der folgenden Seite!
Dazu wünsche Ihnen viel Vergnügen!

Peter Glatthard-Weber (pgw), 10. Nov. 2017

 

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